Und was, wenn ich mitkomme?
den ersten Tagen hat er sich wohl etwas übernommen. Jetzt ist er froh, sich bei uns anhängen zu können.
Christian macht einen angenehmen und unaufdringlichen Eindruck. Gestern Abend, als alle schon in ihren Schlafsäcken steckten, Licht aus und Tür zu, da hat er still auf seinem Bett im ersten Stock gesessen, eine Stirnlampe in seine karamellfarbenen, verstrubbelten Jungenhaare geklemmt, und Tagebuch geschrieben. Von meinem Bett aus habe ich ihm ein bisschen dabei zugesehen und mich gefragt, was einen so jungen Bengel auf den Jakobsweg treibt. Naja, so jung ist er auch nicht mehr, immerhin 27 Jahre alt. Aber er könnte unser Sohn sein. Also, was macht er hier, anstatt zu studieren, zu arbeiten, eine Familie zu gründen oder sonstwie an seinem Leben zu bauen, so, wie andere Leute es in seinem Alter tun? Solche Geschichten finde ich total interessant. Aber Christian ist keiner, der unaufgefordert vor allen und jedem seine Motive darlegt. So neugierig ich auch bin, diese zurückhaltende Art finde ich sehr sympathisch. Pit und Doris finden das vermutlich auch — jedenfalls haben sie nichts dagegen, dass Christian heute mit ihnen wandert.
Während die drei zusammen aus Deba herausmarschieren, machen Ingo und ich uns auf den Weg zum Busbahnhof. Wir haben Zeit und vertreiben sie uns, indem wir uns unsere Lebensgeschichten erzählen. Spannend! Ingo hat sich irgendwo in Griechenland zwischen Ziegen und Eseln niedergelassen und lebt dort recht alternativ. Er ist wegen eines schweren Unfalls, den er vor Jahren hatte und der ihn beinahe das Leben gekostet hätte, Frührentner und hat deswegen Zeit, sich in aller Ruhe die Welt anzusehen. Er sieht auch genau so aus, wie ich mir einen Weltenbummler vorstelle: mager, mit spitzer Nase, langen Haaren und abgerissener Kleidung, ein bisschen wie mein Lieblingsschriftsteller T. C. Boyle. So einem möchte man nicht unbedingt im Dunkeln begegnen. Aber das sind natürlich Vorurteile. Erst beim näheren Hinsehen merkt man, wie einer wirklich ist. Ingo jedenfalls ist nett und aufgeschlossen und interessant. Es macht Spaß, sich mit ihm zu unterhalten, und wir entdecken viele Gemeinsamkeiten. Er schwärmt genauso von seinem Sohn wie ich von meinen Kindern.
Pünktlich zur Busabfahrtszeit stößt Hans zu uns. Er bezahlt beim Fahrer drei Tickets und lässt sich das Geld nicht von uns zurückgeben. Mit dem Bus zu fahren ist hier spottbillig. Trotzdem ist es nicht selbstverständlich, dass Hans uns einlädt.
Meinem Magen bekommt die Schaukelei auf den engen, gewundenen Straßen nicht besonders gut, und ich bin froh, eine Plastiktüte griffbereit zu haben. Auch Ingo geht es schlecht. Er hat wegen einer Allergie Tabletten geschluckt, die auf ihn wie eine Droge wirken. Beruhigend, dass er erst mal sitzt. Nur Hans ist mopsfidel und erzählt Geschichten. In Markina angekommen, trennen wir uns von ihm und machen uns zu zweit auf den Weg zu unserer Unterkunft.
Gestern haben wir telefonisch ein Zimmer in einem kleinen Hostal gebucht, und das gilt es jetzt zu finden. Es soll irgendwo neben oder bei oder in der Nähe einer Feuerwehr liegen. Ingo und ich müssen viel herumfragen. Ingo versteht ein bisschen Spanisch, aber er ist mir keine große Hilfe. Ich muss aufpassen, dass er nicht mitten auf der Straße umfällt. Der Ärmste scheint im Moment sowieso vom Pech verfolgt zu sein. Er ist beklaut worden und hat jetzt nur noch 12 Euro in der Tasche. Wir überreden unsere Wirtin, ihm ein Zimmer für genau diesen Betrag zu überlassen. Er ist sehr erleichtert und lässt sich erst mal von mir ins Bett schicken.
Ich richte mich ein Stockwerk höher in unserem Dreibettzimmer ein. Der Blick aus dem Fenster ist wieder mal berauschend: vor mir erstrecken sich Wiesen und Berge und der blaue Himmel. Aber zum Herumsitzen bin ich nicht hergekommen. Ich mache mich auf den Weg, den Ort zu erkunden, und besichtige die Kirche San Miguel de Aretxinaga, die äußerlich unscheinbar, innen aber recht kurios ist. Das Gebäude ist um einen megalithischen Altar, der aus drei gigantischen Felsblöcken besteht, herumgebaut worden. Ich bin fasziniert und verarbeite meine Eindrücke in Ruhe auf einer Steinbank vor der Kirche. Neben mir plätschert ein kleiner Fluss, Spaziergänger kommen schwatzend vorüber, Vögel zwitschern. Es geht mir gut, und ich genieße das Alleinsein. Als ich genug davon habe, schlendere ich zur Marienkirche, die nur wenige Straßen weit entfernt liegt. Hier habe ich mich mit Doris und Pit verabredet,
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