Und was, wenn ich mitkomme?
Wetteraussichten. Zu Hause sind es jetzt bis zu 30 Grad — Hochsommerwetter — , während wir uns hier den Hintern abfrieren. Und es sieht nicht so aus, als ob sich daran in nächster Zeit etwas ändern würde. Trotzdem sprechen auch einige Gründe dafür, das hier durchzuziehen:
1. Wir haben nur uns und sind trotz der schwierigen Situationen immer noch zusammen;
2. wir sind ungestört und können über Stunden reden, ohne dass Menschen oder Dinge uns ablenken;
3. wir hatten uns vorgenommen, zwei Monate wegzubleiben, und wären uns und unserem Vorsatz gerne treu;
4. wir haben Lust auf Mobilität und möchten noch was erleben. Irgendwie haben wir beide das Gefühl, noch nicht erreicht zu haben, was wir erreichen wollten.
Das Frühstück liegt noch nicht lange zurück. Trotzdem suchen wir uns ein Restaurant und essen leckere Gemüsesuppe, frischen Fisch mit Kartoffeln und zum Nachtisch Eis. Mehr gibt es nicht zu tun. Im hostal legt Eva sich hin und döst den restlichen Nachmittag. Ich fette unsere Schuhe ein. Am Abend spazieren wir noch einmal an unsere kleine blaue Lagune, setzen uns auf regenkühle Steine und hängen — jeder für sich — unseren Gedanken nach. Auf unserem andalusischen Balkon gibt es heute nur noch einen kleinen Imbiss. Früh liegen wir im Bett, aber wir reden noch lange. Im Zimmer nebenan liegt ein junges Pärchen. Ihr Bett quietscht so, dass wir lachen müssen.
Aus Evas Tagebuch:
Wir treffen die Entscheidung, auf jeden Fall die zwei Monate durchzuhalten.
46. TAG FINISTERRE — LIRES
Wir sind wieder »on the road« — was für ein gutes, befreiendes Gefühl! Der Himmel ist zwar noch bewölkt, aber wir sind zuversichtlich. Und unsere Zuversicht wird belohnt, wir fragen uns warum. »Sich selbst erfüllende Prophezeiung«, schlägt Pit vor, »das, was wir glauben, trifft ein, oder das, was wir hoffen... oder beides.«
»Haben wir also vorher nicht genügend gehofft?«, gebe ich zu bedenken. Wir haben Finisterre hinter uns gelassen und wandern durch kleine, stille Orte, so, wie gelbe Muscheln und Pfeile es ausweisen. Die Sonne setzt sich immer mehr durch. Der Wind vom Meer pustet die letzten Wolken weg. Wir entschließen uns, den vorgegebenen Jakobsweg zu verlassen und stattdessen direkt an der Küste weiterzumarschieren. Wir wollen in Meeresnähe bleiben.
»Ich denke, dass wir sehr wohl geglaubt haben, dass wir das hier schaffen und dass es gut wird — sonst hätten wir uns ja gar nicht erst auf den Weg gemacht. Aber vielleicht hat es auch was mit unseren Entscheidungen zu tun«, überlegt Pit. Was für ein blödes Argument, denke ich. Dass es seit drei Wochen ständig regnet, haben wir weder entschieden noch gewollt oder gehofft. Aber ich sage nichts. Der Tag hat so schön begonnen, und ich will ihn nicht verderben. »Ich meine, das miese Wetter, das können wir nicht verhindern«, sagt Pit, so, als hätte er meine Gedanken gelesen, »aber wie wir uns dazu verhalten...«
Gestern Abend haben wir lange über Entscheidungen nachgedacht, darüber, wie wenig uns der Camino davon abverlangt hat: Der Weg ist vorgegeben und das Tagesziel. Es ist klar, was man anzieht und was man isst, nämlich das, was vorhanden ist. Der Tag gestaltet sich von allein und man muss nicht überlegen, mit wem man ihn verbringt. Man verabredet sich nicht, sondern lebt die Beziehungen, die einem gerade entgegenkommen. Auf dem Camino gibt es keine Telefonanrufe, keine Schränke oder Läden oder Freizeitangebote, aus deren Überfülle man wählen muss, keine Fristen, die einzuhalten sind, keine Stechuhr und keinen Termindruck. Es gibt keinen leeren Autotank, den man auffüllen muss, und keine Benzinpreise, über die man sich ärgern kann, keine unbezahlten Rechnungen, keine kaputten Glühbirnen, die ausgewechselt werden müssen, keinen abgestürzten Computer, keinen leeren Kühlschrank, keine Bügelwäsche, niemanden, der etwas von einem will oder erwartet. Hier müssen wir nicht einmal über unsere Außenwirkung nachdenken oder uns entscheiden, was das angemessene Verhalten wäre. Über alles, was sonst unseren normalen Alltag bestimmt, brauchen wir nicht eine Sekunde nachzudenken. Es reicht aus, einfach zu sein, der man ist, und zu tun, was der Moment verlangt.
Wochenlang haben wir zusammengenommen kaum mehr Entscheidungen getroffen als zu Hause in wenigen Stunden. Aber dann wurde es schwierig. Mein Knie und Pits Fuß machten Probleme, wir waren erschöpft und dann immer wieder das trübe und nasse Wetter...
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