Und was wirst du, wenn ich gross bin
hatte er seine Jahre als einfacher Arbeiter an der Universität vergessen und war nun satt, egoistisch und willens, seine Stellung als Taschengeldgeber mir gegenüber schamlos auszunutzen. Nur weil ich von seinem Geld lebte, mir damit Schallplatten, Schulbücher, Busfahrkarten und das gelegentliche Arbeiterbier kaufte, war ich also Produktionsvieh geworden. War das immer schon so gewesen? Mir graute. Ich zog kurz in Erwägung, auf einem Schiff anzuheuern und mein Glück in anderen Ländern zu versuchen, aber mein Reisepass war gerade abgelaufen, und am Donnerstag war wieder Popclub. Der Treffpunkt für Gleichgesinnte. Menschen, die sich wie ich nicht damit zufriedengaben, einfach nur ihre Hausaufgaben zu machen, sondern die Gesellschaft und auch die Welt verändern wollten, zum Wohle aller, und dabei gute Musik hörten. Musik, die mein Vater zwar noch im Plattenschrank, aber nicht mehr auf dem Plattenteller hatte. Nein, hier waren Menschen, die sich nicht nur um die Butter auf dem Brot sorgten, sondern ab und zu auch mal zum Kiffen rausgingen.
Und sie würde da sein. Wollen wir sie Kassandra nennen, wegen ihrer kritischen Betrachtung der Zukunft. Sie hatte leicht angestrubbelte Haare, einen ganz bezaubernden dunkelblonden Wischmopp, und die Nase war stupsig. Sie trug wie die anderen weite Hemden in Weiß oder Batik, dazu ein Palästinensertuch und Jeans mit Botschaften in Kuli. Aber sie war engagierter, soziologisch relevanter, und ihr Busen war größer und sehr rund. Also - rein vom Sehen her zu urteilen, haptisch habe ich es nie verifizieren dürfen, es handelte sich mehr um platonische Lust. Wobei das Platonische von ihr und die Lust von mir kam. Ihr Busen passte perfekt zu ihrem noch sensationelleren Hintern, der ebenfalls grandios rund war, sogar in der Latzhose, die sie regelmäßig anhatte. Das sage ich heute rückblickend, damals lag mir jeglicher unemanzipatorischer Sexismus fern, außer beim Onanieren.
Aber zurück zur Sache. Der Donnerstag nahte, ich war im Popclub, sie auch, und als ich von einer zwanzigminütigen Tanzeinlage (zu einem einzigen Song, mehr brauchte man im Popclub nicht, um zwanzig Minuten zu füllen) zum Tisch zurückkam, hörte ich sie sagen:
»Das ist eine Schweinerei mit den Raketen!«
Als sich informierender Bürger, dessen Vater die Süddeutsche abonniert hatte, wusste ich sofort, sie spricht vom NATO-Doppelbeschluss und der Stationierung amerikanischer Pershing-II-Raketen in Deutschland. Der Kalte Krieg auf einem seiner Höhepunkte. Wir standen kurz vor der atomaren Vernichtung, dem »Day After«. Die Lage war also ernst. Hier war ihr gegenüber politische Reife gefragt und kein 08/15-Kommentar.
»Wegen dem Frieden«, warf ich ein.
Sie blickte mich ernst an und nickte. Ich lächelte. Sie nicht. Ich verstand. Manchmal geht die Sache vor, und man muss das Privatleben zurückstellen.
»Wir müssen was tun, wir müssen das verhindern, die Gesellschaft wachrütteln«, fuhr sie fort.
»Wegen dem Frieden«, insistierte ich. Diesmal ohne Lächeln. Sie nickte wieder.
»Kommst du mit?«, fragte sie mich.
»Klar, wir sollten alle hin.«
Volltreffer. Ich schwöre es, sie hatte kurz zurückgelächelt.
»Du kannst bei uns mitfahren, Samstag um neun ist Treffen.«
Durch geschicktes Ausfragen der anderen am Tisch, während sie tanzen war, erfasste ich das ganze Ausmaß dieses Gesprächs. Ich würde Teil der deutschen Geschichte werden. Teil der Geschichte der internationalen Friedensbewegung überhaupt. Die große Friedenskette, eine Kette von Menschen zwischen Ulm und Stuttgart, über einhundert Kilometer Gesinnung, Menschen, die sich an der Hand nehmen und gegen die Raketen sind und vor allem gegen die da oben. Samstag ist ein perfekter Tag dafür. Soll sich mein Vater doch seine Butter selber kaufen.
Und da wurde mir bewusst: Das ist es. Ich kann was tun. Ein neues Kapitel meines Lebens wird aufgeschlagen. Ich bin nicht Teil der Gesellschaft, ich bin gegen die Gesellschaft, und so werde ich sie ändern, gemeinsam mit den anderen Parias.
Sicher, ich hätte nie gedacht, dass man die Gesellschaft zwischen Ulm und Stuttgart ändern kann, aber wer bin ich, die Geschichte zu hinterfragen? Waterloo war schließlich auch über Jahrhunderte lang nur ein Kaff vor den Toren Brüssels. Man lernt eben immer dazu, zum Beispiel hätte ich auch nicht gedacht, dass selbstlose Friedensstifter so oft das Wort »ich« gebrauchen.
Ich konnte kaum schlafen bis Samstag. Mit Kassandra - die einen
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