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Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kemmler
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dass morgens die Sonne aufgeht und abends sogar unter?«
    So was weiß man einfach, man redet nicht darüber.
    In welchem Umfeld dieses Denken erblühen - oder sollte man vielleicht lieber sagen: Schimmel bilden kann, erlebte ich beim Besuch eines sehr netten Kerls aus der oberen Mittelschicht, der mich so oft zu sich eingeladen hatte, dass es auch für amerikanische Verhältnisse als tatsächliche Einladung galt.
    Die Familie bewohnte, wie neunzig Prozent der Einwohner, ein kleines, frei stehendes, einstöckiges Haus aus leichtem Holz und Rigips. Daneben befand sich eine Garage in gleicher Größe wie das Haus, deren Inhalt jedem Schrotthändler Freudentränen in die Augen getrieben hätte. Nach Ankunft folgte die Vorstellung bei der Mutter. Sie war eine unfassbar dicke Frau zwischen Mitte dreißig und Anfang fünfzig - so genau ließ sich das unter den Fettpolstern nicht eruieren -, die in einer alten Sitzgruppe saß, oder besser: hing, und fernsah. Sie blickte kurz zu mir auf, als ihr Sohn mich vorstellte, gab einen undefinierbaren Laut von sich und glotzte weiter.
    Weil das Zimmer meines Schulfreunds eine Kopie der Garage war, nur erheblich kleiner, spielten wir Baseball hinter dem Haus. Garten wäre der falsche Ausdruck. Es war eine lehmige Fläche mit vereinzelten Grasansätzen, dazwischen einige Bäume und Sträucher, und sah aus wie die gärtnerische Entsprechung des Kopfes eines Tschernobylstrahlenopfers. Was ich allerdings damals noch nicht wissen konnte, denn der GAU in Tschernobyl passierte erst fünf Jahre später.
    Wir spielten mit dem Hund des Hauses, einem Husky, der schmutziger war als der Fußabtreter vor der Tür. Mein Freund erzählte mir, ihr letzter Hund sei vom Nachbarn erschossen worden, weil er den stacheldrahtgekrönten Gartenzaun übersprungen hatte und dabei wirkte, als würde er die Hühner von nebenan nicht nur erschrecken wollen. Auf meinen fragenden und von Panik untermalten Gesichtsausdruck hin wurde ich schnell aufgeklärt, man müsse sich nicht sorgen, auf Jugendliche habe der Nachbar bisher nie geschossen, und außerdem sei auch der Vater meines Freundes gut bewaffnet. Die Schrotflinte durfte ich beim Abendessen mit dem Vater selbst bestaunen. Es war das Einzige, was ihn zum Reden veranlasste, außer einem gelegentlichen »Shut up«, also »Halt’s Maul« gegenüber seiner Frau und seinem Sohn, wenn sie den Fernseher zu lange übertönten.
    Mit mir redete er immerhin kurz, er fragte mich:
    »Where are you from?«
    »From Germany, Sir«, antwortete ich, seinen Sohn kopierend, der seine Eltern ebenfalls mit »Sir« und »Ma’am« anredete.
    »Are you Nazi?«
    »No, Sir!«
    »Hmmm.«
    Ich nehme an, er wusste nicht, dass es East und West Germany gab. Zum Glück verschwand er nach dem Essen, einem Ein-Gang-Menü mit Tiefkühlpizza, um einen zu trinken.
    Wir übernachteten in der Gartenscheune, nachdem wir mit ein paar Nachbarskindern noch ein bisschen American Football gespielt hatten. Es war muffig, und immer wieder bellten Hunde. Nur einmal war es eine Weile ruhig, nachdem ein Schuss gefallen war, allerdings nicht nah genug, um den Hund des Hauses zu gefährden. Ich habe kein Auge zugetan und war am nächsten Morgen ziemlich stolz, mir nicht in den Schlafsack gemacht zu haben.
    Meinen Freund, ich will ihn Sisyphus nennen, weil er eindeutig Ziele hatte, aber seine Umgebung immer wieder alles zurückrollen ließ, habe ich danach nie mehr besucht.
    Was die dortige Gesellschaft betraf, so hatte ich einen Moment, an dem ich eine Marke hätte setzen können. Nein, nicht nur eine Marke, ein wirkliches Statement. Für Toleranz und Gleichberechtigung. Es war nach dem Training der Leichtathletikmannschaft, der ich schon allein deshalb angehörte, weil ich so meinen Status verbessern konnte. Es waren noch zwei andere da: ein Bekannter aus der absoluten Oberschicht, den ich auf der Poolparty seines besten Oberschichtkumpels näher kennengelernt hatte, einer Party, die zur Freude aller von einer Schlägerei mit den Nachbarn gekrönt wurde; und ein Schwarzer, mit dem ich mich gut verstand.
    Wir warteten darauf, von den Eltern abgeholt zu werden. Der schwarze Kumpel wurde jedoch von seinem großen Bruder abgeholt, der gerade Zeit hatte, und so beschlossen wir, zwei gegen zwei Basketball zu spielen. Der schwarze Kumpel spielte mit seinem Bruder, was einleuchtete, Familie geht vor.
    Der Oberschichtler nahm den Basketball, sprach die Worte:
    »We start,’cause we’re white«, und warf mir den Ball

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