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Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kemmler
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kannte, der einen kannte, der einen VW-Bus hatte - und anderen zu einem Happening zu fahren, Musik zu hören, die Welt zu verändern! Und natürlich freie Liebe. Welt, was brauchst du mehr, außer unseren Zielen?
    Es war tatsächlich großartig. Nicht nur dass die Menschenkette wirklich geschlossen war, wir waren dort an der B10, wo wir standen, auch so viele Gesinnte, dass die Kette dreistrangig war. Wir hielten uns an den Händen und sangen alle:
    »Wehrt euch, leistet Widerstand, gegen die Atomraketen im Land.«
    Es sei erwähnt, ich habe zu der Zeit nie gesungen, schon gar nicht im Chor. Und da stand ich nun, inbrünstig singend, im Tonfall irgendwo zwischen »Ave Maria« und »Schiri - du Arschloch«. Ich hielt Kassandras Hand in der meinen, und beide waren wir Teil eines großen Ganzen, das gegen ein noch größeres Ganzes war, welches sich allerdings anders als wir nicht an den Händen hielt, sondern nur die Kontoverbindungen teilte. Innerlich musste ich lächeln, alle meine Pläne für die Zukunft waren doch sehr kindlich gewesen. Tierforscher und Sportler, das sind die Ziele eines Sechsjährigen, und wenn man erst mal angefangen hat, die Gesellschaft zu verändern, wirken sie reichlich naiv.
    Es war ein großer Tag für den Frieden.
    Der geschichtlichen Vollständigkeit halber will ich nicht verschweigen, dass der NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung der Pershing II heute als eine der wichtigsten Entscheidungen Helmut Schmidts gilt, die er gegen die Meinungsmehrheit durchgesetzt hat und die wesentlich zum Aufstieg Gorbatschows und dem Fall des Eisernen Vorhangs beigetragen hat. Diese Entwicklung hatte Kassandra doch nicht ganz vorhergesehen.
    Der persönlichen Vollständigkeit halber möchte ich noch hinzufügen, ich konnte auch nicht voraussehen, dass heute eines meiner größten Ziele ist, in zwanzig bis dreißig Jahren Helmut Schmidt zu werden.
    Was Kassandra und mich betrifft, so haben wir leider kein gutes Ende gefunden.
    Am Abend der Friedenskette ging ich nach Hause und Kassandra entschwand mit dem Besitzer des VW Busses. Aber wer stark genug ist, die Welt zu retten, der kann auch mal anderen gegenüber großzügig sein, selbst wenn sie älter sind und den Führerschein haben.
    Um meiner Abneigung gegenüber der Gesellschaft und meiner frisch gewonnenen gesellschaftlichen Reife auch äußerlich Nachdruck zu verleihen, wünschte ich mir von meiner Mutter einen selbst gestrickten Pulli zu Weihnachten, in vielen dunklen Farben und bis fast zum Knie reichend. Mehr war im Augenblick nicht zu tun.
    Es kam der Winter, und mit ihm die Raketen. Außerdem trat die Philosophie in mein Leben, und das nicht ohne Folgen. Ich glaube bis heute, dass Immanuel Kant die Schuld daran trägt, dass ich nicht Idealist geblieben bin.
    Das lag daran, dass mein bester Freund im Rahmen der Kollegstufe Philosophieunterricht hatte und begeistert davon berichtete. Insbesondere von Kant, den zu lesen, wie er mir versicherte, beinahe unmöglich sei, weil er sich so kompliziert ausdrücke. Das kannte ich auch gut von mir, besonders von zu Hause, dieses Sich-unverstanden-Fühlen, deswegen las ich aus Solidarität einfach mal in die Kritik der reinen Vernunft rein. Dabei musste ich allerdings feststellen, dass Kants Schwierigkeiten, die Verständlichkeit betreffend, in einer ganz anderen Kategorie lagen, und das war mir dann vorerst doch zu viel, ich hatte selbst genug Sorgen.
    Kassandra hatte nach dem VW-Busfahrer noch zwei weitere mit Führerschein gehabt, und unsere Wege hatten sich ein bisschen getrennt. Mit dem Erwachen des Frühlings würde sich das jedoch ändern, schon wegen des Friedens, so hoffte ich jedes Mal, wenn sie enge Hosen oder etwas mit Ausschnitt trug.
    Bis zu jenem unseligen Tag Anfang April. Ein grauer, wolkenverhangener Tag, an dem man mit hängenden Schultern, den Kopf von der Last der Schwere gebeugt, vor Unterrichtsbeginn vor der Schule stand und möglichst nichtssagend und vielversprechend rauchte. Das hätte in der großen Pause genauso weitergehen sollen. Da aber kam Kassandra, empört, verbittert und voller Unverständnis über die Ignoranz der Schulleitung und anderer Verantwortlicher.
    »Wisst ihr, was für ein Tag heute ist?«, fragte sie.
    Alle, die nicht schon ihren Ausführungen im Klassenzimmer lauschen durften, so wie ich, blickten sie betroffen und mit einer aus Erfahrung gut abgestimmten Mischung aus Interesse, Schuldbewusstsein und Desinteresse an.
    »Heute ist der Todestag von Martin

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