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Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kemmler
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Luther King.«
    Nein, das hätten wir so nicht gewusst. Ich überlegte, wann eigentlich Gandhi gestorben war. Wir waren gespannt auf das Folgende, und jeder fing schon mal an, innerlich Empörung bereitzustellen, nur für alle Fälle.
    Sie fuhr fort:
    »Und ich war vorhin im Direktorat, das Thema wird im Unterricht nicht behandelt werden, die Flaggen werden nicht auf Trauer gesetzt, und es ist - obwohl ich es vorgeschlagen habe - nicht mal möglich, fünf Schweigeminuten für alle zu machen. Nicht mal fünf Minuten! Kommt mit!«
    Wir kamen mit. Sie führte uns in die Mitte des Pausenhofs, neben die Sonnenuhr (Kunst am Bau!) und ließ uns einen Kreis bilden, dann mussten wir uns an den Händen fassen, schweigen, und in unsere Mitte stellte sie einen schlechten Kassettenrekorder, aus dem dann scheppernd und dröhnend die »I have a dream«-Rede von Martin Luther King erschallte. Beinahe fünfzehn Minuten lang stand ich da, in meinem dunklen und fast bis zu den Knien reichenden Pulli, ein stummer Chorknabe, während Kinder verschiedener Altersstufen um uns herum spielten und uns ärgerten, weil sie trotz mehrfach zugezischter Kurzbriefings den Ernst der Lage nicht verstanden oder ihn einfach nicht verstehen wollten. Die Gnade der späten Geburt. Wir Mahnwachler ragten im Schulhof auf wie die bärenfellbemützten Gardisten vor dem Buckingham Palace, die keine Miene verziehen, während Schaulustige ihre Hingabe auf die Probe stellen.
    Diese fünfzehn Minuten haben jeglichen noch in mir vorhandenen Funken Leidenschaft für Kassandra nachhaltig erkalten lassen, und das nicht nur wegen der Außentemperatur oder weil es die letzten fünf Minuten nieselte.
    Nein, Kant hatte mich gelehrt zu unterscheiden zwischen dem Ding an sich und dem Ding für mich, der Erscheinung der Dinge. Martin Luther King hatte große Ziele, und ich bin wirklich ein Freund von Dr. King, auch damals schon gewesen. Seit meinen Erfahrungen in Florida war dieser Respekt sogar zutiefst persönlich verankert. Aber selbst ich erkenne manchmal den Unterschied zwischen zivilcouragiertem Friedensstiften und selbstgefälliger Wichtigtuerei. Und dieses bedrückende Schauspiel von zehn bis zwölf im Kreis stehenden Fünfzehn- bis Siebzehnjährigen war ganz sicher eine Form der - wenn auch absolut politisch korrekten und emanzipierten - Onanie. Und da bin ich schon damals eigen gewesen, mit dem Ding an sich will ich dann spielen, wenn ich will, und nicht wenn anderen einfällt: »Heute ist Dienstag, wer wird denn heute unterdrückt?« Ich halte Rassismus wie erwähnt für eine Geißel, aber ich bin mir sicher, Dr. King hätte auch keinen Spaß gehabt an diesem Vormittag und wäre wahrscheinlich schleunigst auf ein Gospelkonzert gegangen.
    Nun ist fairerweise hinzuzufügen, dass ich seit frühester Kindheit von extremer Schüchternheit geplagt bin. Besonders vor Menschen zu stehen, ohne formalen Anlass, war ein Alptraum. Händchen haltend vor gefühlten zehntausend Schülern im Stand kalt schwitzend Betroffenheit zu simulieren war für mich die absolute Höchststrafe. Ich nehme an, das hat mir geholfen, die praktische Vernunft der Angelegenheit zu kritisieren. Zu Recht kann man mir deshalb vorhalten: Nur einige Monate vorher war ich davon beseelt gewesen, mit ganzen zweihunderttausend Menschen Händchen zu halten und Lieder abzusingen. Und jetzt, in einer Minderheitssituation, wollte ich nichts als weg. Das ist Populismus pur. Vielleicht bin ich tatsächlich populistisch veranlagt, ein Fähnchen im Wind. Aber zu meiner Verteidigung möchte ich sagen, Ort, Zeit und Inhalt einer Aktion sollten zusammenpassen, und Schauplatz des Spektakels war nicht Pensacola 1981 oder Georgia 1963. Vielleicht war es auch mein bisheriges Versagen in Zivilcourage, welches das gut Gemeinte zur Pausenhofkasperei umdeklinierte und auch später noch die Meinung hervorbrachte: Wenn einem schon Rassismus als Anlass zur Selbstdarstellung auf den Nägeln brennt, dann wäre meine Anregung, jemand Originelles auszusuchen, zum Beispiel Patrice Lumumba.
    Und außerdem, ganz grundsätzlich: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint!
    Auch wenn diese Regel meiner Meinung nach an Frühstückstischen immer noch nichts verloren hat.
    War also nichts mit Friedensstifter. Vorerst. Es wurde Zeit, meine Latzhose und das Palästinensertuch an den Nagel zu hängen und mich nach neuen Herausforderungen umzusehen. An diesem Abend habe ich mich, gemäß einer alten Tradition der Arbeiterklasse und mit dem

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