Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kemmler
Vom Netzwerk:
beherrschen, um nicht in wippende Bewegungen zu verfallen oder an irgendetwas rhythmisch zu ziehen.
    Mein Roadiekollege und ich hatten schon am fünften Schaukeltag Unterarme, die im Umfang dem entsprachen, was ich heute an den Oberschenkeln mit mir herumtrage. Da wir beide den Film Der Glöckner von Notre Dame sowohl in der Version mit Charles Laughton als auch in der mit Gina Lollobrigida gesehen hatten, riefen wir uns in den Schichtwechseln, wenn der eine noch das Blitzen des Stroboskops in den Augen des anderen ausmachen konnte, immerfort zu:
    »Esmeralda, Esmeralda, the bells, the bells!«
    Die Glocken. Wir konnten sie hören, laut und deutlich, in der Stimme von Hans Albers, in den Stimmen der Comedian Harmonists, und wir hörten sie auch noch in der Stille auf dem Weg nach Hause, ja sie waren sogar das Einzige, was uns daran hinderte, in der U-Bahn einzuschlafen. Wir dachten Quasimodo, wir fühlten Quasimodo, wir waren Quasimodo. Zu Hause war in diesem Fall übrigens die Wohnung meines Bruders, der kurz zuvor ausgezogen war, aber noch einen Monat Miete guthatte und mich deshalb das von jeglicher Einrichtung befreite Zimmer kostenlos nutzen ließ. Den Freunden karger Bequemlichkeit sei seitdem aus Erfahrung gesagt: Ein Teppich ist keine Isomatte. Das ist wohl auch der Satz, der den Härtegrad der nichtvorhandenen Schlafunterlage am besten beschreibt. Denn ich hatte leider nur meinen Schlafsack mitgenommen. Es gab auch keine Gelegenheit, eine Alternative zu organisieren, denn es war beim besten Willen nicht daran zu denken, zwischen Arbeitsende um 22.45 und Dienstbeginn um 09.00 Uhr irgendetwas anderes zu machen, als mit Glück etwas Essbares im Vorbeifahren in sich hineinzustopfen, in der U-Bahn zu hocken und zu schlafen. Insofern man den komatösen Zustand zwischen den Muskelkrämpfen vom falschen Liegen, in dem man düstere Visionen von endlosen Kreisbewegungen hat, zum Klang von - natürlich - Glocken, denn als Schlaf bezeichnen möchte.
    In der Arbeit ging es uns beiden, Quasimodo und Quasimodo, nur noch darum, durchzuhalten. Ihm gelang es neun Tage, ich habe nach dem zehnten Tag das Handtuch geworfen. Ich war stolz, einen echten Roadie um einen Tag übertroffen zu haben. Ansonsten war ich größtenteils menschliches Gemüse, und »nicht mehr können« hatte eine neue Dimension erreicht, die ich seit damals zu respektieren versuche.
    Rekommandeur kommt übrigens vom französischen »recommander«, also empfehlen, anpreisen. Ich kann diese Arbeit aber niemandem reinen Gewissens empfehlen, wobei es heute sicher einfacher ist, denn im nächsten Jahr schon wurde ein Motor für die Schaukel eingebaut, der sie seither antreibt. Das habe ich aber nicht mehr miterlebt.
    Ich wurde später noch einmal an den Job erinnert, als eine Freundin auf einem Faschingsball war und wegen Überfüllung der Damentoilette einmal den Herrenabort aufsuchte. Als sie sich dort die Hände wusch, kam ein als Glöckner von Notre Dame verkleideter Kerl herein, stierte ihr in den Ausschnitt und jubelte:
    »Glocken!«
    Ich weiß genau, was er meinte: Er dachte vom Einblick inspiriert an Gina Lollobrigida. Was mich daran erinnert, einen großen Vorteil hatte das Schaukeln gehabt. Die in Hamburg kriselnde und an Ermüdungserscheinungen leidende Beziehung erfuhr frischen Wind, als meine Freundin sah, was die Plackerei aus meinem Rücken und meinen Armen gemacht hatte. Das Mittelgebirge zog sich als Muskelrelief zwischen meinem vom Teppichbodenschlafen gestählten Hintern und dem Glöcknerochsengenick hin, flankiert von zwei menschlichen Baggerarmen.
    Was die Wochen nach meiner Rückkehr anbetraf, kann ich nur sagen, die Stärke spielt eine Rolle.
     

24
     
    unternehmensberater
     
    Irgendwann war es dann so weit. Die Beziehung war auseinandergegangen, friedlich und irgendwie auch nicht völlig unerwartet. Und nun war es Zeit, einen Grund zu finden, um das Studium abzubrechen. Vier Jahre waren genug, immerhin absolvieren manche Menschen in dieser Zeit ein komplettes Studium. Für die Zulassung zum Vordiplom fehlte mir nur noch der Schein für Buchhaltung und Kostenrechnung.
    Allerdings war es doch langsam angeraten, etwas zu finden, was nicht nur die Zeit füllte oder kurzfristig Geld einbrachte, sondern wirklich einem Beruf entsprach. Dieser Weg tat sich auf in Form des sogenannten »Quereinstiegs in die Industrie«. Das ist im Allgemeinen der Fachausdruck für »Es hat sich was ergeben, wo ich auch ohne Diplom arbeiten kann«. Der Einstieg

Weitere Kostenlose Bücher