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Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kemmler
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auf fünf Metern gelegene Rigg zurückzufinden, das sich wie Heimat anfühlte. Die zu erledigende Aufgabe erledigte dann ein australischer Kollege, der schon als richtiger Roadie bei namhaften Bands wie Pink Floyd gearbeitet hatte. Ich war also mal wieder an meine Grenzen gestoßen, und das noch bevor der Job zu Ende war.
    Natürlich hat es sich trotzdem gelohnt, weil ich, seit ich einen Einblick in die Veranstaltungstechnik gewonnen habe, auf Konzerten zu meiner Begleitung Dinge sagen kann wie »Schöne Backline« oder alternativ »Sauberes Rigging«.
    Das beweist der Begleitung dann überdeutlich, dass ich eigentlich einen Backstagepass verdient hätte, aber aus Mitgefühl mit ihr beim Fußvolk vor der Bühne geblieben bin.
    Übrigens, falls die Begleitung partout nicht auf diese Sätze reagieren will, empfiehlt es sich, so lange den »Sound« zu loben und dabei scheinbaren Blickkontakt mit dem Tonmann am Mischpult aufzunehmen, bis die nämliche Dame einen küsst, um Ruhe zu haben, oder sich einem auf die Schultern setzt, was die Vorstufe zum Kuss ist, wie jeder erfahrene Konzertbesucher weiß. Es gibt natürlich noch den ungeliebten dritten Fall, in welchem sie, um das Geplapper nicht mehr ertragen zu müssen, ein Bier holen geht und sich anschließend nach alternativen Schultern umsieht, im schlimmsten Fall nach denen eines Amateurs, der selbst Musiker ist oder Gitarrist oder der einfach nur die gespielte Musik mag.
     

23
     
    rekommandeur
     
    Bei all dem konnte ich jedoch nicht ahnen, dass das Roadietum, das körperlich durchaus herausfordernd und stärkend war, nur die Vorbereitung sein sollte auf den mit Abstand körperlich härtesten Job meines gesamten Lebens:
    Rekommandeur auf dem Münchner Oktoberfest.
    Damit ist derjenige gemeint, der vor einem Fahrgeschäft sitzt und die Menschen dazu ermuntert, hereinzuspazieren. Eine Aufgabe, wie für mich gemacht, dachte ich. Und das dachte auch der australische Kollege, mit dem ich diesen Job teilte. Unser Fahrgeschäft war eine Schaukel, auf der sich sechs Leute auf jeder Seite gegenübersitzen und schaukeln, während sich um die Schaukel eine große Trommel dreht, die innen bemalt ist. Es war ein nostalgisches Fahrgeschäft, das seit etwa 1900 betrieben wurde. Der Australier und ich waren guter Dinge. Das Oktoberfest ist eine feine Sache, die Bezahlung war sehr gut, und alle paar Minuten auf einen Knopf drücken, das Fahrgeschäft in Betrieb nehmen, die Leute herein- und herausbitten und dazwischen per Mikrofon Menschen anlocken, klang nach der anstrengenden Arbeit im Rigg geradezu entspannt. Nun war es aber so, dass sich zwar die Trommel um die Schaukel elektrisch drehte, aber die Schaukel nicht auf Knopfdruck schaukelte. Am einen Ende der Schaukel war ein Seil angebracht, das über zwei Umlenkrollen in eine Kabine innerhalb der Trommel führte, die mit zwei Einwegspiegeln ausgestattet war. Aus dieser Kabine konnte man die schaukelnden Gäste sehen, sie hingegen bekamen einen nicht zu Gesicht. Was gut war, denn der Gesichtsausdruck, wenn man zwölf Menschen mit einem Seil anschaukelt, ist unerfreulich. Unser Arbeitsablauf sah also folgendermaßen aus:
    Drei Minuten lang schaukeln, wobei die wirklich harte Anschaukelphase ungefähr dreißig Sekunden dauerte. Dann gute zwei Minuten zur Stroboskopbeleuchtung im Inneren der Trommel schaukeln, möglichst gleichmäßig, wie ein Schaukelpferd. Anschließend die Abbremsphase einläuten, die ebenfalls Kraft kostete. Kurz innehalten, bis gesichert ist, dass auch die Trommel zum Stillstand gekommen ist, anschließend die Türe öffnen und die Passagiere verabschieden. Dann drei Minuten Pause, während der Kollege schaukelt und man die wartenden Passagiere begrüßt. Anschließend diese Gäste hereinbitten und dann drei Minuten lang schaukeln, wobei die wirklich harte Anschaukelphase ungefähr dreißig Sekunden dauerte. Dann gute zwei Minuten zur Stroboskopbeleuchtung im Inneren der Trommel schaukeln, möglichst gleichmäßig, wie ein Schaukelpferd, wie ein Schaukelpferd, ein Schaukelpferd, ein Schaukelpferd …
    Ich nehme an, das Prinzip wird deutlich. Dazu lief, und zwar zwölf Stunden ohne Unterbrechung, die gleiche Kassette eine Dreiviertelstunde lang, bevor sie wieder von vorne begann. Es waren musikalische Klassiker aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Noch heute, wenn ich Hans Albers »Komm auf die Schaukel, Luise« oder die Comedian Harmonists »Mein kleiner grüner Kaktus« singen höre, muss ich mich sehr

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