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Und was wirst du, wenn ich gross bin

Und was wirst du, wenn ich gross bin

Titel: Und was wirst du, wenn ich gross bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kemmler
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und Bogen zu erlegen. (Das ist natürlich nicht wahr, sondern nur ein weiterer Aufmerksamkeitstest meinerseits.)
    Das machten wir acht Stunden täglich, unterbrochen nur von einer Stunde Mittagspause. Wir plauderten viel, und ich nutzte die Zeit, wenn er in den Baumkronen herumturnte - was den Gesprächsfluss zuweilen beeinträchtigte -, um mein frischgestochenes Tattoo zu pflegen, ein chinesisches Zeichen. Damals waren Tätowierungen noch nicht sehr verbreitet, und dass ich es überhaupt erwähne, beweist, wie sehr mir neben der historischen Genauigkeit der Berichterstattung immer noch daran gelegen ist, mein vermeintliches Außenseitertum zu betonen. Leider gibt es nichts auf dieser Welt, was durch Betonung an Autorität gewinnt.
    Nichtsdestotrotz war ich damals der Einzige, den ich kannte, der ein solches Tattoo hatte, was man sich heute kaum noch vorstellen mag. Nebenbei und um wuchernden Fantasien vorzubeugen, möchte ich erwähnen, dass ich später Chinesen getroffen habe, die das Zeichen eindeutig als das von mir Gewünschte identifiziert haben, ich also nicht zur Freude und Belustigung eines Tätowierers seither die Botschaft »Blaues Entenohr« auf dem Arm herumtrage.
    Das Symbol, das ich wählte, bedeutet so viel wie Wunsch, Idee, Gedanke, was meine Sehnsucht nach einer Berufung und allgemeiner Erfüllung mittels guter Ideen, bahnbrechender Gedanken und erfüllter Wünsche zum Ausdruck bringen sollte. Und mir gefällt heute noch, dass die Chinesen eben diese Begriffe »Wunsch, Idee, Gedanke« durch zwei miteinander verbundene Zeichen darstellen, nämlich dem Zeichen für Musik oder Ton und dem Zeichen für Herz. Also Musik des Herzens. Was mich außerdem daran erinnern sollte, irgendwann mal das Gitarrenspiel zu erlernen. Eine einsame Hütte in einem alten bayerischen Wald wäre der ideale Ort gewesen, um genau das zu tun, aber ich besaß ja keine Gitarre.
    Also beließen wir es dabei, Insektenfallen zu leeren, uns des Abends gegenseitig nach Zecken abzusuchen und dann, nach einem genüsslichen Feierabendtrunk und vor Arbeitsmüdigkeit entspannten Gesprächen unter Freunden, von unseren Wünschen und Ideen zu träumen.
    Die Erkenntnisse, die aus der Auswertung der Insekten gewonnen wurden, trugen dazu bei, Melampus den Doktortitel zu verschaffen, waren jedoch nicht so bahnbrechend, dass ich mich noch im Einzelnen an sie erinnern könnte. Trotz meines langgehegten Interesses an der Zoologie kann ich sie nur wie folgt zusammenfassen:
    In Baumkronen krabbeln Viecher herum, und zwar teilweise ganz andere Viecher als auf dem Boden oder in Holzhütten. Wenn man die Umwelt verschmutzt, hat das auch Auswirkungen auf die Viecher, und die Viecher haben Auswirkungen auf die Bäume und auf das Gleichgewicht an sich. Wenn man das Gleichgewicht verliert, fällt man vom Baum, weshalb man sich anseilen oder gut versichert sein sollte, was im Falle der Umweltverschmutzung keine Option ist. Die Viecher leben in den Kronen von Bäumen, die Umweltverschmutzung lebt von der Krone der Schöpfung. Da die Viecher in den Baumkronen in die Falle von einem Vertreter der Krone der Schöpfung getappt sind und anschließend in Alkohol eingelegt wurden, gilt für alle: Nicht jede Krone bringt Glück, Macht und Zufriedenheit mit sich. Und Alkohol ist auch keine Lösung, weil er nämlich nicht auflöst, sondern konserviert.
    Eigentlich schöne Erkenntnisse, wie ich fand, und nicht durch graue Theorie, sondern in der Praxis gewonnen. So eine Angewandtheit hätte ich mir auch in den Kulturwissenschaften gewünscht, aber mir fiel zugegebenermaßen keine Möglichkeit ein, eine meiner Vorlesungen mit einer Woche im Wald zu kombinieren.
    So kehrte ich, von der Waldesluft erholt, frisch tätowiert nach Hamburg und Lüneburg zurück.
     

22
     
    roadie
     
    Um die Kulturwissenschaften dann doch noch ein bisschen anzuwenden, habe ich mich bei meiner nächsten Berufswahl auf Zeit für den Rock’n’ Roll entschieden, genauer gesagt den Auf- und Abbau von Licht und Ton bei Konzerten. Ich war also Roadie - oder Techniker, wie der Kenner sagt. Und wo könnte mehr Rock’n’ Roll geboten werden, als beim Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Abteilung Technik?
    Wahrscheinlich überall, aber ich kannte sonst keinen, der mich eingestellt hätte. Und beim Rock’n’ Roll geht es ja auch nicht darum, kleinlich auf Begriffen herumzuhacken, sondern dem Bauchgefühl zu folgen, und mein Bauchgefühl sagte mir: Ich brauche Geld und kenne jemanden, der

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