Und was wirst du, wenn ich gross bin
gekostet, und die Wahrscheinlichkeit, später mal Soldat zu werden, deutlich verringert.
Was die Kleinstadt Pensacola selbst betrifft, ihre Ausstrahlung und ihren kulturellen Einfluss, kann man sie wohl am besten mit dem Wort »Salzgitter« beschreiben. Ich war mit dem Leichtathletikverein mal zur Teilnahme an den deutschen Meisterschaften im Mehrkampf nach Salzgitter gereist, und das war eine erstaunliche Erfahrung. Nicht der Wettkampf, da wurde ich Siebter meines Jahrgangs, sondern der Ort. Eine Ansammlung von ein- bis zweigeschossigen Wohnbehältnissen, locker verteilt, und ohne den Eindruck zu vermitteln, dass es irgendwo anfing und irgendwo aufhörte. Der Stadtkern war einen halben Quadratkilometer groß, und wenn man ihn verlassen hatte, glaubte man schon außerhalb zu sein, blieb aber, obwohl das Auto ständig in Bewegung war, noch eine ganze Weile lang in Salzgitter. In Pensacola war das noch ausgeprägter, hunderttausend Einwohner verteilten sich dort auf die Fläche von München. Doch zu den Einwohnern später.
Meine persönliche Hauptattraktion Pensacolas konnte man nur erleben, wenn man wie ich länger dort wohnte: Kabelfernsehen; und was noch sensationeller war: Pay-TV. Damals begann das deutsche Nachmittagsfernsehen gegen 16:00 Uhr auf drei Programmen. Da konnte man nicht vormittags Bugs Bunny sehen. Nun kann man darüber streiten, ob es für einen Teenager wichtig ist, Bugs Bunny zu sehen, aber ich hatte wochenends und in den Schulferien für solche Diskussionen wenig Zeit, denn nach Bugs Bunny kam Roadrunner , gefolgt von Love Boat und Starsky & Hutch - wenn nicht gerade ein Spielfilm im Pay-TV lief, den ich noch nicht kannte. Ich nehme an, meine Motivation war vor allem, das Erlebnis »Schule in den Südstaaten« zu verdrängen und außerdem durch Zeichentrickfilme und rund um die Uhr laufende Vorabendserien meinen Bildungshunger zu stillen.
Schließlich war ich aufgrund der auch in Pensacola existierenden Schulpflicht ein Jahr Gast der Bellview Middle School, 8. Klasse. Der Stundenplan war jeden Tag der gleiche:
»Civics«, eine Art Zivilkunde, bestehend aus amerikanischer Geschichte, dann Mathe, gefolgt von »Science«, was im Ausführen einfachster chemischer Experimente bestand (irgendwas über dem Bunsenbrenner im Reagenzglas ankokeln, bis es die Farbe ändert), dann eine Mischung aus Kunst und Werken, Sport, Mittagessen und schließlich Englisch.
»Civics« begann immer damit, dass sich alle erhoben, die Hand aufs Herz legten, auf die amerikanische Flagge schauten und gemeinsam sprachen:
»I pledge allegiance to the Flag of the United States of America, and to the Republic for which it stands, one Nation under God, indivisible, with liberty and justice for all.«
Soll heißen: »Ich schwöre Treue auf die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika und die Republik, für die sie steht, eine Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle.«
Das schworen alle außer mir, denn als Deutscher war ich von dem Ritual ausgenommen, was ich als unglaublich cool empfand. Sitzen bleiben, wenn alle anderen aufstehen und verbale Entsprechungen von Fackelzügen im Stechschritt durchführen müssen, war großes Freiheitstischtennis. Anschließend schauten wir meist einen schwarz-weißen Lehrfilm zu wichtigen Figuren der amerikanischen Geschichte.
Mathe war im Vergleich zur Schule zu Hause circa zwei Jahre hinterher, so dass ich ein Jahr lang mal als absoluter Mathecrack durchgegangen bin. Ich habe sogar eine Auszeichnung mit Urkunde bekommen: bester Matheschüler des Jahres. Leider hat mir, als ich nach zwölf Monaten wieder nach Deutschland zurückgekehrt bin, dieses Jahr so sehr gefehlt, dass ich fortan eine Fünf in Mathe bis zum Abitur durchgeschleppt habe. Was eindringlich beweist: Verfrühte Ehrungen können einen Werdegang auch bremsen. Hybris ist schlecht fürs Geschäft. Aber es hat trotzdem verdammt gutgetan.
Der Naturwissenschaftslehrer war ein sehr netter Mann, der in Pensacola wohl sehr einsam war. Nicht sexuell, intellektuell. Anders konnte ich mir nicht erklären, dass er Stunde um Stunde damit verbrachte, sich mit mir vorne am Lehrertisch über alles mögliche Europäische zu unterhalten, während der Rest der Klasse Bunsenbrenner bediente. Sein größter Traum war, einmal den Ring der Nibelungen in Bayreuth zu sehen. Ich vermute, ich war außer ihm und meinem Vater der Einzige in Pensacola, der wusste, dass es dabei nicht um einen Fantasyroman oder
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