Und weg bist du (German Edition)
falsch las oder dagegen verstieß. Die Sozialarbeiter priesen sie für ihr Organisationstalent, aber ich bin mir sicher, dass sie nicht wussten, wie prompt und grausam ihre Strafen sein konnten. Hazel war nur deshalb Pflegemutter, weil sie damit Geld verdienen konnte. Ich glaubte nicht, dass sie auch nur einen einzigen Tropfen Freundlichkeit in ihrer gebrochenen Seele hatte. Vor den Sozialarbeitern spielte sie ihre Rolle jedoch so gut, dass diese anscheinend nie den wahren Grund herausfanden, warum wir so eifrig Unkraut jäteten oder Schnee schippten.
Darüber dachte ich nach, als ich im Dunkel des Raums stand und wartete. Wo war Noah? Meine Augen brannten vor Anspannung und ich schloss sie für einen Moment.
»Du lügst«, flüsterte Eckzahn mir ins Ohr und riss mich damit aus dem Schlaf. »Niemand glaubt dir.«
Es war eine schwüle Sommernacht und einige von uns älteren Mädchen durften die Nacht auf der Veranda hinter dem Haus verbringen. Mein Schlaf war so tief gewesen, dass ich das Gefühl hatte, vom Grund eines trüben Teichs aufzutauchen. Er stank aus dem Mund. Ich wusste, dass er sich nie die Zähne putzte. Er tat immer nur so, wenn Hazel die Jungs abends kontrollierte.
»Hau ab.« Meine Stimme klang schlaftrunken.
Ein Stück des Mondes lugte unter der Dachrinne hervor und tauchte die anderen schlafenden Mädchen in ein verschwommenes Licht. Die Schatten auf Edgars Gesicht konnte er jedoch nicht verwischen. Kein Windzug regte sich und abgesehen vom Zirpen der Grillen in der Ferne war es vollkommen still.
»Du hättest ihr die Wahrheit sagen sollen!«
Ich war verwirrt und noch immer nicht richtig wach. Ich hatte Hazel sehr wohl die Wahrheit gesagt, nur eben nicht die »manipulierte Wahrheit«, zu der Edgar mich hatte zwingen wollen.
»Dein Freund schläft. Dein Bruder auch. Jetzt bist du also einmal ganz allein, du alte Hexe.«
Er streckte den Arm aus und bohrte mir seine langen, schmutzigen Nägel ins Gesicht.
Ich riss die Augen auf, meine Wangen brannten wie Feuer. Wo war ich? Ich befand mich eindeutig in einem anderen Teil des Hauses – nicht dort, wo ich die Augen geschlossen hatte. Schwindel überkam mich und ich musste würgen. Wie war ich hier gelandet? Ich hatte unten auf Noahs Rückkehr gewartet und glaubte die Augen nur für einen Moment geschlossen zu haben. Was ging hier vor sich?
War es Eckzahns bösem Geist aus irgendeinem Grund gelungen, mich hierherzubefördern, oder war ich in einen seltsamen Trancezustand verfallen und wie eine Schlafwandlerin in die erste Etage hinaufgestiegen? Abermals stieg Panik in mir auf und ich drehte mich um. Die Tür stand offen. Ich stolperte darauf zu. Auf der Schwelle blieb ich jedoch stehen und hielt mich am Rahmen fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Mein Gesicht glühte vor Angst und mein Herz galoppierte wie ein Pferd im Rennen seines Lebens. Dennoch blieb ich seltsam kontrolliert. In diesem Moment hasste ich Seale House genauso sehr, wie ich es fürchtete. Das Gefühl der Bedrohung war wieder allgegenwärtig – ein Gefühl, das früher mein täglicher Begleiter gewesen war.
»Du wirst nicht gewinnen!«, zischte ich.
Wenn Seale House mich in die obere Etage befördert hatte, dann würde ich mich auch allem stellen, womit es mir aufwarten mochte, Bissspuren und Ähnliches eingeschlossen. Ich zwang mich zum Umdrehen und musterte meine Umgebung. Zunächst hatte ich geglaubt, der Raum, in dem es nichts gab als ausgeblichene Tapeten und Möbel mit Wasserschäden, wäre mir unbekannt. Die Fenster ließen mehr Licht hinein als die im Erdgeschoss, doch der Rußfilm filterte auch hier die Sonnenstrahlen und ließ alles grau erscheinen. Ein kleiner runder Tisch mit beschädigter Platte stand in der Mitte. Geblümte Vorhänge hingen schlaff herunter. Das Muster wiederholte sich auf den wuchtigen Sesseln in der Ecke. Teile der Wände waren verkohlt und es stank nach kaltem Rauch. Nachdem ich mich einmal langsam im Kreis gedreht hatte, wusste ich plötzlich, wo ich war. Erschrocken holte ich Luft. Ich befand mich in Hazels Zimmer – an keinem Ort der Welt wollte ich so wenig sein wie hier. Dieses Zimmer war fast genauso unheimlich wie im Keller.
Sofort glaubte ich durch den Rauch hindurch auch den süßlichen Geruch nach Marihuana wahrzunehmen und fragte mich, ob Hazel das Feuer vielleicht selbst verursacht hatte, indem sie mit ihrem brennenden Joint eingeschlafen war. Warum hatte Seale House mich ausgerechnet in diesem Raum abgesetzt, der in
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