Und wenn wir fliehen (German Edition)
dankend an, als Hilary uns einlud, bis zum nächsten Morgen zu bleiben. Ich tat jedoch kaum ein Auge zu.
Ich hatte Meredith gesagt, ich wäre bald zurück, doch das stimmte vielleicht nicht. Möglicherweise war diese Nacht die letzte, die ich gemeinsam mit ihr verbrachte; wenn die Frau mit der roten Mütze uns einholte, wenn ein Schneesturm uns, unerfahren wie wir waren, zu weit von unserem Unterschlupf wegführte, wenn uns die Lebensmittel ausgingen, bevor wir ein funktionsfähiges Auto fanden. So viele Wenns. So viele schreckliche Wenns.
Aber wenn ich jetzt für all die Menschen fortging, die den Impfstoff brauchten, dann ging ich auch für Meredith. Ohne eine Möglichkeit, das Virus zu bekämpfen, würde die Welt für immer so bleiben, wie sie zurzeit war. Wahrscheinlich würde alles sogar noch schlimmer werden. Wie sollten wir jemals wieder etwas aufbauen, wenn die Menschen jedes Mal, wenn sie zusammenkamen, Angst haben mussten, sich anzustecken? Indem ich fortging, würde ich sie nicht nur jetzt beschützen, sondern ihr ganzes Leben lang. So viel Angst ich auch hatte, ich wollte diese starke, mutige Person sein, die sie sah, wenn sie mich anblickte. Also würde ich diese Person sein, und zwar so lange wie nötig.
Dieser Gedanke hatte irgendwie eine beruhigende Wirkung, und ich dämmerte schließlich ein.
Leo, Tessa, Meredith und ich nahmen allein im Speiseraum ein zeitiges Frühstück aus weich gewordenen Cornflakes und Trockenmilch zu uns. Dann umarmte ich Meredith und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Nachdem wir uns voneinander verabschiedet hatten, begleitete Hilary Leo und mich zur Quarantänehütte. Sie hatte ein Tablett mit etwas zu essen für Gav und Tobias in der Hand. Sonst war niemand gekommen, um uns Lebewohl zu sagen, nicht einmal Justin. Ich fragte mich, ob er wohl wieder Wache schob.
Gav saß auf dem Bett, die Jacke geschlossen, die Kapuze auf dem Kopf, so als wäre er bereit, noch in dieser Sekunde aufzubrechen. Doch er zog die Handschuhe noch einmal aus, um die Frühstücksschale entgegenzunehmen. Ich kannte ihn gut genug, um die Anspannung in seinen Schultern, die leichte Starre seiner Miene zu bemerken, die seine Besorgnis verrieten. Schuldgefühle ließen meinen Magen verkrampfen. Es war meine Schuld, dass er sich in die Enge getrieben fühlte, und nutzlos. Er war den ganzen langen Weg für mich mitgekommen, und ich hatte keine Ahnung, wie ich die Reise für ihn einfacher machen sollte. Alles, was ich wusste, war, dass es irgendwie weitergehen musste.
Tobias fummelte auf dem Boden am Funkgerät herum. Er hatte mich gestern gebeten, es vom Schlitten mit hereinzubringen, damit er einen weiteren Versuch starten konnte.
»Irgendwas zu hören?«, erkundigte ich mich.
Er schüttelte den Kopf. »Bloß ’ne Menge Rauschen.«
Hilary wartete, während die beiden ihre Cornflakes hinunterschlangen, und sammelte danach das Geschirr ein. Sie blieb noch kurz im Türrahmen stehen.
»Ich wünschte, wir könnten euch noch etwas zu essen für unterwegs mitgeben«, sagte sie. »Es tut mir leid, mehr können wir einfach nicht entbehren. Aber ihr seid hier immer willkommen. Erwähnt nur bitte niemandem gegenüber, dass es uns hier gibt. Und passt auf euch auf!«
Als die Tür sich hinter ihr schloss, stand Gav auf und streckte sich. »Ich hab das Gefühl, sie sind einfach nur froh, uns loszuwerden«, sagte er.
Leo zuckte mit den Schultern. »Dann hätten sie uns ja gar nicht erst helfen müssen.«
Ich tauschte die Eisbeutel in der Kühlbox gegen die aus, die ich über Nacht zum Einfrieren draußen gelassen hatte. Tobias packte das Funkgerät in seine Kunststoffhülle, und wir marschierten in den Wald, wo unsere Schlitten versteckt waren.
»Es sind nur noch fünf«, stellte Tobias fest.
»Der Schneesturm«, erklärte ich. »Tessa ist hingefallen und hat ihren verloren. Was hatte sie denn geladen?«
Er nahm unsere Vorräte in Augenschein. »Die zweite Ration Verpflegung, die Kiste, die noch voll war«, erwiderte er. »Sonst nichts Wichtiges, soweit ich sehen kann.«
»Wir können ja danach suchen, wenn wir in diese Richtung gehen«, sagte Gav. »Aber ich denke, wir sollten uns nicht allzu lange damit aufhalten.«
Wir schichteten unsere Vorräte so um, dass wir die Decken und die leeren Benzinkanister von Merediths Schlitten auf die anderen vier verteilen konnten. Dann machten wir uns auf den Weg zum Highway. Als wir auf das offene Gelände kamen, wo wir in den Sturm geraten waren, hielt ich
Weitere Kostenlose Bücher