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Und wenn wir fliehen (German Edition)

Und wenn wir fliehen (German Edition)

Titel: Und wenn wir fliehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Crewe
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genau das war ich. Ich hätte nie geglaubt, dass ich einmal dermaßen egoistisch sein könnte. Aber ich war’s. Alles, woran ich denken konnte, war, nach Hause zu kommen, lebendig. Ich weiß nicht mal, ob ich es ungeschehen machen würde, wenn ich könnte, weil ich nicht glaube, dass ich es sonst geschafft hätte.« Er lachte. »Ich hatte solche Angst davor, meinen Eltern zu begegnen – als hätten sie wissen können, was ich getan habe – und zu sehen, wie sie mich anblickten. Ein winziger Teil von mir war erleichtert, dass sie tot waren und ich es nicht erleben musste. Ist das nicht schrecklich?«
    Er starrte weiter auf den Boden, so als hätte er Angst davor, mir ins Gesicht zu sehen. Die Vorstellung, dass Leo stahl, einen Menschen im Stich ließ, der ihm geholfen hatte, verursachte mir Bauchschmerzen. Es war genau so, wie Tobias am Abend zuvor gesagt hatte: Man tut einfach das, was nötig ist, um irgendwie durchzukommen.
    »Du hast bloß versucht, es nach Hause zu schaffen, um deinen Eltern zu helfen, und Tessa – allen«, sagte ich. »Dieser Teil ist nicht schrecklich.«
    »Ich weiß nicht«, erwiderte er. »Sieht aus, als hätte ich die Sache noch viel mehr vermasselt, nachdem ich zurück war. Ich möchte ja gern der Mensch sein, der ich sein sollte. Tessas Freund. Dein bester Freund. Ab und zu fühle ich mich sogar fast normal. Doch dann fällt mir wieder ein, was passiert ist, und diese ganze Grausamkeit kommt wieder hoch, und ich kann ihr nicht entfliehen.«
    Ich dachte daran, wie böse ich auf ihn gewesen war, weil er nicht mehr er selbst war, und meine Augen fingen an zu brennen. Das alles hatte er mit sich herumgetragen, jeden Tag, jede Minute. »Du kannst nichts für deine Gefühle«, sagte ich. »Du hast eine Menge durchgemacht. Ich war sauer, das stimmt, aber das war nicht fair. Ich hätte mich mehr darum bemühen müssen, mit dir zu reden.«
    »Ich wollte es dir nicht erzählen«, erwiderte er. »Und überhaupt, vielleicht bin ich einfach nicht mehr der Mensch, der ich früher einmal war. Vielleicht bin ich jetzt eben ein Dieb und Betrüger und praktisch ein Mörder und gar kein guter Mensch mehr.«
    »Du bist kein …«, begann ich, doch er sprach einfach weiter, ohne mich ausreden zu lassen.
    »Vielleicht werden wir alle zu schlechten Menschen, wenn das Leben nur hart genug ist. Ich hab immer gedacht, die meisten Leute wollten richtig handeln, wenn sie die Möglichkeit dazu haben, aber jetzt …«
    Ich setzte mich neben ihn. »Und wenn du dich irrst? Wenn es einfach bloß ein Weilchen dauert, bis die Leute aufhören, Angst zu haben, und wieder anfangen, klar zu denken? Du hast mir gesagt, man müsste sich die Menschen wie Tiere vorstellen, weißt du noch?«
    »Na ja, verhalten tun sie sich jedenfalls so, oder?«, antwortete er.
    »Ja. Und von einem Tier sagst du auch nicht, es wäre ›schlecht‹, wenn es mit einem anderen um Futter kämpft oder um einen Platz, an dem sie sich beide niederlassen wollen. Das nennt man Überleben. Die Leute haben Angst und werden von ihren Instinkten beherrscht.« Ich schwieg einen Augenblick. »Genau wie Justin, vermute ich. Aber wenn es keinen Grund mehr gibt, Angst zu haben, fangen sie vielleicht alle wieder an, sich wie Menschen zu benehmen. Das ist doch schließlich der Grund dafür, dass wir den Impfstoff so weit durch die Gegend transportieren, oder? Damit das Leben wieder normal werden kann.«
    Endlich sah er mich an. »Glaubst du das wirklich? Dass alles wieder so werden kann, wie es einmal war?«
    »Ja«, erwiderte ich. »Das tu ich.«
    »Ich hoffe, du hast recht«, antwortete er. »Denn die meiste Zeit habe ich nicht das Gefühl, zu meinem alten Ich zurückkehren zu können, zu dem guten. Niemals wieder.«

Siebzehn
    Justin beäugte skeptisch die Bettlaken, aber er fing keine Diskussion an, als ich ihm eins davon gab. Wir trennten die größeren mit Tobias’ Armeemesser durch, deckten jeden Schlitten mit einem der weißen Tücher ab und knoteten die restlichen an unsere Jackenkragen. Sie bauschten sich im aufkommenden Wind.
    Der rötliche Schimmer der hereinbrechenden Dämmerung begann den östlichen Horizont zu färben, als wir zurück zum Highway marschierten. Mein Herz pochte vor Aufregung. »Wir sollten wieder genug Abstand zur Straße halten«, sagte ich. »Und nur dann sprechen, wenn es unbedingt sein muss. Haltet die Ohren offen, damit wir mitkriegen, wenn jemand kommt, bevor sie uns sehen.«
    Wir liefen querfeldein. Vereinzelte Schneeflocken

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