Und wenn wir fliehen (German Edition)
fielen vom Himmel und landeten als kleine kalte Pikser auf meinem Gesicht. Die Luft über den Schornsteinen einiger entfernt liegender Bauernhöfe war still und klar, und außer unseren eigenen waren auf dem Schnee keine Fußspuren zu sehen.
Wir hatten die Grenze zu einer anderen Provinz überquert, doch alles war genauso tot wie vorher.
Selbst die Menschen, die nicht krank geworden sind, werden wohl irgendwann in die städtischen Krankenhäuser aufgebrochen sein, sagte ich mir. Um kranke Familienmitglieder dorthin zu bringen und dazubleiben, in der Hoffnung, sie bald wieder mit nach Hause nehmen zu können. Oder sie sind irgendwo unterwegs steckengeblieben, weil ihnen der Sprit ausging. Nicht alle, die einmal hier gelebt hatten, waren tot. Aber ich musste daran denken, was ich kurz vorher zu Leo darüber gesagt hatte, dass die Welt wieder so werden würde, wie sie einmal war, und die Gewissheit, die ich da noch gehabt hatte, geriet ins Schwanken.
Was wusste ich schon noch über die Welt? Ich hatte auch nicht damit gerechnet, auf eine Gruppe wie die Bewohner der Kolonie zu treffen, oder auf dieses Netzwerk von Gangstern, oder damit, zu erfahren, dass die Regierung Ottawa aufgegeben hatte. Die Wahrheit war, dass ich nicht wusste, was wir in Toronto vorfinden würden. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, ob überhaupt noch genug von unserer Welt übrig war, damit irgendjemand die Scherben wieder zusammensetzen konnte.
Wir ließen das offene Gelände hinter uns und schlängelten uns durch einen Fichtenwald. Als wir auf der anderen Seite wieder herausstapften, peitschte der Wind über uns hinweg und wehte uns eisige Schneeflocken ins Gesicht. Es kamen nicht besonders viele vom Himmel, aber sie wirbelten inzwischen schneller durch die Luft und vermischten sich mit den Wolken aus Schnee, die der Wind vom Boden fegte. Ich wischte mir übers Gesicht und zog meinen Schal zurecht.
»Langsam wird’s ein bisschen ungemütlich«, sagte ich, bekam jedoch Magenschmerzen bei dem Gedanken, jetzt schon Pause zu machen. Ich dachte daran, wie schnell der erste Schneesturm uns außer Gefecht gesetzt hatte. Wenn es wieder so schlimm wurde, müssten unsere Verfolger allerdings auch haltmachen. »Ist vielleicht besser, einen Unterschlupf zu suchen, bis der Wind sich wieder legt.«
Justin straffte die Schultern und zog an mir vorbei. »Das ist doch gar nichts«, sagte er. »Wie habt ihr’s denn den ganzen Weg von der Küste geschafft, wenn ihr nicht mal das bisschen Wind aushaltet?«
Wenn es so bleibt, dann ist es gut, dachte ich. Aber wenn es noch schlimmer wird …
»So dunkel sieht der Himmel doch gar nicht aus«, meinte auch Gav und stapfte weiter. »Ich denke, wir können ruhig noch ein bisschen weitergehen.«
Die Wolken waren in der Tat nicht so düster wie die vor ein paar Tagen. Trotzdem fing ich an, mich beim Laufen in der Gegend umzuschauen. Ungefähr einen Kilometer weiter gruppierten sich ein paar Häuser um einen Weg abseits der Hauptstraße. Jenseits davon stand ein Bauernhof, völlig einsam, bis auf die Scheune, die sich dahinter befand. Er war näher am Highway und weiter von uns entfernt als die anderen Häuser, doch irgendetwas daran ließ mich ein zweites Mal hinsehen. An der gelben Hauswand lehnte ein unförmiger brauner Stapel. Feuerholz!
Ich warf einen Blick auf den Schornstein: nicht das kleinste Rauchwölkchen. Verlassen, wie alle anderen Häuser, dachte ich. Es musste allerdings einen funktionsfähigen Kamin haben.
Der Wind schleuderte einen heftigen Schwall Schnee auf mich. Ich schüttelte ihn ab. Die Flocken in der Luft schienen jetzt dichter zu sein. Als ich noch einmal zu dem Haus blickte, konnte ich den Holzstoß plötzlich nicht mehr erkennen.
Justin stiefelte immer noch energisch vor uns her. Wenn der Sturm noch ein bisschen wartete, wären wir in Sicherheit.
Ich hatte vielleicht ein Dutzend weitere Schritte gemacht, als der Wind sich plötzlich drehte, mir kreischend um die Ohren pfiff und von allen Seiten Schnee auf mich niederpeitschte. Tränen begannen mir aus den Augenwinkeln zu strömen und gefroren sofort auf meiner Haut. Die Häuser waren nicht mehr zu sehen. Jetzt blieb sogar Justin stehen und drehte sich nach uns um. Die eisige Kälte fraß sich meinen Hals hinunter, bis in die Lunge. Ich duckte mich.
Wir hätten stehen bleiben können und hoffen, der Sturm würde sich ebenso schnell legen, wie er aufgekommen war, doch mit jeder Sekunde, die wir vergeudeten, überkam uns mehr Kälte
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