Undank Ist Der Väter Lohn.
Schultern packen und schütteln, bis ihr die Zähne klapperten und wie lose Kieselsteine aus dem Mund sprangen. Wie konnte sie so unverfroren sein? Von ihrer Mutter mit der Beschuldigung konfrontiert, hätte sie den Vorwurf leugnen müssen, hätte angesichts der Beweise zusammenbrechen, um Verzeihung bitten oder um Verständnis betteln müssen. Aber sie konnte doch nicht den schlimmsten Verdacht ihrer Mutter mit einer Unbekümmertheit bestätigen, als handelte es sich um die alltäglichste Sache der Welt.
»Entschuldige«, sagte Nicola, als ihre Mutter ihr eine Antwort auf ihre sorglosen Fragen schuldig blieb. »Du siehst das anders. Ich versteh schon. Ich hätte dir nicht zu nahe treten sollen. Es tut mir leid, Mama.«
Sie hatte einen Rasierer aus der Ablage an der Wand genommen und schabte damit über ihr rechtes Bein, das lang und tief gebräunt war, mit wohlgeformten Waden und sportlich straffen Muskeln. Nan sah ihr zu. Sie wartete auf eine Unsicherheit, einen Schnitt, auf das Blut. Nichts geschah.
Sie sagte: »Was bist du eigentlich? Wie soll ich dich nennen? Eine läufige Hündin? Ein Flittchen? Eine Nutte?«
Die Worte verletzten nicht. Sie berührten nicht einmal. Nicola legte den Rasierer weg und sah ihre Mutter an. »Ich bin Nicola«, erwiderte sie. »Die Tochter, die dich sehr lieb hat, Mama.«
»Sag so was nicht. Wenn du mich liebtest, würdest du nicht –«
»Mama, ich habe das so für mich entschieden. Mit offenen Augen und in Kenntnis aller Tatsachen. Ich habe die Entscheidung nicht getroffen, um dir weh zu tun, sondern weil ich ihn haben wollte. Und wie ich mich fühlen werde, wenn es vorbei ist – denn alles ist irgendwann mal zu Ende –, ist allein meine Sache. Wenn es weh tut, dann tut es eben weh. Wenn nicht, dann eben nicht. Es tut mir leid, daß du es mitbekommen hast, weil es dir offensichtlich sehr zu schaffen macht. Ich kann nur sagen, daß wir uns alle Mühe gegeben haben, diskret zu sein.«
Die Stimme der Vernunft, ihre schöne Tochter. Nicola war eben Nicola. Sie nannte die Dinge immer beim Namen. Und während Nan sie jetzt so lebhaft vor sich sah – eine schemenhafte Silhouette, die im Glas des Fensters, an dem ihre Mutter stand, Gestalt anzunehmen schien –, versuchte sie, nicht zu denken, geschweige denn zu glauben, daß die freimütige Ehrlichkeit ihrer Tochter ihr Tod gewesen war.
Nan hatte ihre Tochter nie verstanden, das sah sie jetzt klarer als in all den Jahren, die sie darauf gewartet hatte, daß Nicola aus der Puppe ihrer wilden, schwierigen Teenagerzeit schlüpfen würde, ein erwachsener Mensch, nach dem Bild der Eltern geformt. Bei den Gedanken an ihr Kind überkam Nan ein so niederschmetterndes Gefühl abgrundtiefen Versagens, daß sie sich fragte, wie sie überhaupt weiterleben sollte. Daß sie eine solche Tochter geboren hatte ... daß die Jahre der Selbstaufopferung zu diesem Moment geführt hatten ... daß all das Kochen und Putzen und Waschen und Bügeln und Sorgen und Planen und Geben, Geben, Geben damit geendet hatte, daß sie sich jetzt wie ein Seestern fühlte, den man aus dem Meer gezogen und auf dem Trockenen liegengelassen hatte, wo er verdorren mußte und verfaulen – zu weit entfernt vom Wasser, um sich zu retten ... daß all die Hingabe, mit der sie die Pullover gestrickt, das Fieber gemessen, die aufgeschürften Knie verbunden, die kleinen Schuhe geputzt, jedes Kleidungsstück gepflegt hatte, in den Augen des einzigen Menschen, für den sie lebte und atmete, letztendlich nicht gezählt hatte ... es war einfach zuviel, um es zu ertragen.
Sie hatte alles gegeben, um eine gute Mutter zu sein, und sie hatte völlig versagt, hatte ihre Tochter nichts gelehrt, was von Substanz gewesen wäre. Nicola war Nicola.
Nan war nur froh, daß ihre eigene Mutter schon während Nicolas Kindheit gestorben war. So hatte sie nicht miterleben müssen, wie Nan gescheitert war, wo ihre Vorfahrinnen nur Erfolg gekannt hatten. Nan selbst hatte die Werte ihrer Mutter uneingeschränkt übernommen. In eine Zeit der Not und des Überlebenskampfes hineingeboren, war sie durch eine strenge Schule gegangen, in der sie Entbehrung, Leiden, Großherzigkeit und Pflichterfüllung gelernt hatte. Im Krieg dachte man nicht an sich selbst. Die eigene Person war der großen Sache untergeordnet. Das eigene Zuhause wurde zur Zufluchtsstätte für rekonvaleszente Soldaten. Essen und Kleider – und, großer Gott, sogar die Geschenke, die man zu einer achten Geburtstagsfeier bekam, obwohl
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