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Undank Ist Der Väter Lohn.

Undank Ist Der Väter Lohn.

Titel: Undank Ist Der Väter Lohn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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drittklassige Universität, kaum besser als ein gewöhnliches Polytechnikum, besucht hatte –, um sich so ungeniert in den altehrwürdigen Räumen von Broughton Manor zu bewegen? Sie mochten zwar verarmt sein, aber sie repräsentierten dennoch vier Jahrhunderte Brittonscher Familiengeschichte. Eine solche Tradition und Abstammung konnte Nicola Maiden wohl kaum für sich in Anspruch nehmen.
    Aber das schien sie nicht im geringsten zu berühren. Nein, ihrem Benehmen nach zu urteilen, schien es ihr nicht einmal bewußt zu sein. Und das hatte seinen guten Grund: Sie wußte um die Macht, die ihr Aussehen ihr verlieh. Langes blondes Haar – wenn auch zweifellos gefärbt –, eine Haut wie Milch und Blut, dunkelbewimperte Augen, muschelzarte Ohren, ein zierlicher Körper ... Sie hatte alle physische Schönheit mitbekommen, die eine Frau sich nur wünschen konnte. Und fünf Minuten in ihrer Gegenwart hatten Samantha gereicht, um zu erkennen, daß sie das auch verdammt gut wußte.
    »Das ist ja super, endlich mal eine Verwandte von Jule kennenzulernen«, hatte sie bei ihrem ersten Zusammentreffen vor sieben Monaten zu Samantha gesagt. »Ich hoffe, wir werden richtig gute Freundinnen.« Sie hatte die kurzen Zwischenferien bei ihren Eltern verbracht und Julian am Morgen ihrer Ankunft angerufen. Schon bei seinen ersten Worten am Telefon hatte Samantha gewußt, woher der Wind wehte. Aber erst als sie Nicola kennenlernte, war ihr klargeworden, wie stark dieser Wind war.
    Das sonnige Lächeln, der freimütige Blick, das natürliche Lachen, die ungezwungene Art zu reden ... Obwohl Samantha sie vom ersten Moment an nicht gemocht hatte, hatte sie mehrmals mit Nicola zusammentreffen müssen, um sich ein vollständiges Bild von der Angebeteten ihres Vetters zu machen. Und dieses Bild verstärkte nur noch Samanthas Unbehagen im Umgang mit ihr. Denn sie sah in Nicola Maiden eine junge Frau, die völlig mit sich selbst zufrieden war, die der ganzen Welt mit offenen Armen gegenübertrat und sich nicht im geringsten darum scherte, ob ihr Angebot angenommen würde oder nicht. Die Zweifel, Ängste und Unsicherheiten einer Frau auf der Suche nach dem Mann, über den sie sich definieren kann, kannte sie überhaupt nicht. Und genau das, meinte Samantha, war wahrscheinlich der Grund, weshalb Julian Britton so versessen darauf war, eben das zu tun.
    Mehr als einmal im Lauf ihres Aufenthalts in Broughton Manor hatte Samantha Julian in Situationen erlebt, die zeigten, wie stark Nicola Maiden einen Mann in ihren Bann ziehen konnte: tief über einen Brief gebeugt, den er gerade an sie schrieb; den Hörer mit der Hand vor Lauschern abschirmend, während er mit ihr telefonierte; blicklos über die Gartenmauer zum Steg über den Fluß starrend, während er an sie dachte; mit dem Kopf in den Händen in seinem Büro sitzend, während er über sie grübelte. Samanthas Vetter war kaum mehr als die Beute einer Jägerin, deren Wesen er nicht im entferntesten verstand.
    Aber es gab für Samantha keine Möglichkeit, ihm über die wahre Natur der Frau, die ihn so verzaubert hatte, die Augen zu öffnen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zuzusehen und zu warten, bis seine Leidenschaft entweder abflaute oder in der Ehe gipfelte, die er so verzweifelt wünschte, oder zum endgültigen Bruch zwischen ihm und der Frau, die er begehrte, führen würde.
    Akzeptieren zu müssen, daß dies der einzige Weg war, der ihr offenstand, hatte Samantha mit ihrer eigenen Ungeduld konfrontiert, und sie machte ihr tagtäglich zu schaffen. Sie kämpfte ständig gegen das Verlangen an, ihrem Vetter die Wahrheit über seine Angebetete mit Gewalt einzubleuen. Immer wieder unterdrückte sie standhaft den Drang zu schmähen, der sich jedesmal meldete, wenn die Rede auf Nicola kam. Aber diese lobenswerten Bemühungen um Selbstbeherrschung hatten ihren Preis. Sie bezahlte mit Schlaflosigkeit, Gereiztheit, Wut und Groll.
    Und ihr Onkel machte die Sache nur noch schlimmer. Tagtäglich mußte sie sich seine schlüpfrigen Anspielungen oder direkten Attacken anhören, die sich unweigerlich um Julians Liebesleben drehten. Hätte sie nicht schon sehr bald nach ihrer Ankunft erkannt, wie sehr sie in Broughton Manor gebraucht wurde, hätte sie nicht etwas Abstand von den unaufhörlichen Gefühlsausbrüchen ihrer Mutter gebraucht, so hätte sie, das wußte sie, schon vor Monaten ihre Zelte hier abgebrochen. Aber sie blieb und schwieg – meistens jedenfalls –, weil sie stets das große Ziel vor

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