Undank Ist Der Väter Lohn.
Augen hatte: Jeremys Abkehr vom Alkohol, die wunderbare Ablenkung, die eine Wiedervereinigung mit ihm für ihre Mutter sein würde, und Julians Erkenntnis, welchen Beitrag sie – Samantha – zu seinem Wohlergehen, seiner Zukunft und seiner Hoffnung, das heruntergekommene Herrenhaus und das Gut zu sanieren, leistete und auch in Zukunft leisten konnte.
»Sam?«
Sie hob überrascht den Kopf. Sie hatte so angestrengt versucht, die Spannungen nach dem Gespräch mit ihrem Onkel loszuwerden, daß sie Julian gar nicht kommen gehört hatte. »Bist du nicht bei den Hunden, Julian?« fragte sie überflüssigerweise.
»Ich hab’s kurz gemacht«, erklärte er. »Sie brauchen mehr Aufmerksamkeit, aber die kann ich ihnen jetzt nicht geben.«
»Cass habe ich versorgt. Soll ich –«
»Sie ist tot.«
»Mein Gott! Julian, das kann doch nicht sein!« rief Samantha entsetzt. »Ich bin gleich, nachdem ich mit dir telefoniert hatte, zu ihr hinausgegangen. Da war sie noch gesund und munter. Sie hatte gefressen, und die Welpen haben alle geschlafen. Ich habe alles aufgeschrieben und den Zettel an das Klemmbrett gehängt. Hast du ihn denn nicht gesehen?«
»Nicola«, sagte er tonlos. »Sam, sie ist tot. Sie hat draußen im Calder Moor gelegen, wo sie wandern wollte. Nicola ist tot.«
Samantha starrte ihn an, während das Wort »tot« von den Wänden widerzuhallen schien. Er weint nicht, dachte sie. Was hat das zu bedeuten, daß er nicht weint? »Tot«, wiederholte sie und sprach das Wort sehr vorsichtig aus, weil sie befürchtete, einen Eindruck zu erwecken, den sie auf keinen Fall erwecken wollte, wenn sie diesem Wort den falschen Klang gäbe.
Er sah sie mit starrem Blick an, und sie wünschte, er täte es nicht. Sie wünschte, er würde etwas sagen. Oder weinen oder schreien oder irgend etwas tun, um ihr zu verraten, was in ihm vorging, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Als seine Erstarrung sich schließlich löste, ging er zum Arbeitstisch. Er sah auf die Paprika hinunter, als hätte er so etwas noch nie zuvor gesehen. Dann hob er das große Messer und betrachtete es eingehend, bevor er seinen Daumen fest gegen die scharfe Klinge drückte.
»Julian!« rief Samantha. »Du schneidest dich!« Eine dünne rote Linie erschien auf seiner Haut. »Ich weiß überhaupt nicht, wie ich das nennen soll, was ich fühle«, sagte er.
Dieses Problem hatte Samantha nicht.
5
Inspector Peter Hanken hatte offenbar beschlossen, Rücksicht zu üben. Das erste, was er tat, als sie die Straße von Buxton zur Padleyschlucht erreicht hatten, war, daß er das Handschuhfach des Ford öffnete und ein Päckchen zuckerfreien Kaugummi herausnahm. Als er einen der Streifen auspackte und in den Mund schob, dankte ihm Lynley im stillen für seine Bereitschaft, das Rauchen zu unterlassen.
Schweigend fuhren sie auf der A6 durch das Tal des Wye, mehrere Kilometer dicht am Ufer des ruhig dahinströmenden Flusses entlang, bevor die Straße einen leichten Schwenk nach Südosten machte. Erst als sie an dem zweiten der zahlreichen Steinbrüche vorüberkamen, die die Landschaft wie häßliche Wunden durchsetzten, machte Hanken eine erste Bemerkung.
»Sie sind also frisch verheiratet, wie?« sagte er lächelnd.
Lynley machte sich auf die derben Sprüche gefaßt, die nun zweifellos kommen würden, der Preis, den man im allgemeinen dafür zahlte, wenn man seine Beziehung zu einer Frau legitimierte. »Ja. Seit drei Monaten. Das ist immerhin schon länger, als die meisten Hollywoodehen halten.«
»Das ist die schönste Zeit. Wenn man gemeinsam anfängt. Das kommt nie wieder. Ihre erste Ehe?«
»Ja. Für uns beide. Wir haben uns Zeit gelassen.«
»Um so besser«, sagte Hanken.
Lynley warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. Er hatte den Verdacht, die negativen Auswirkungen seines Streits mit Helen könnten ihm noch anzusehen sein und Hanken zu einer ironisch gemeinten Lobeshymne auf die Freuden des Ehelebens angeregt haben. Aber er entdeckte nichts weiter in Hankens Gesicht als die ruhige Zufriedenheit eines Mannes, der mit seinem Leben und der Partnerin seiner Wahl glücklich zu sein schien.
»Meine Frau heißt Kathleen«, erzählte Hanken. »Wir haben drei Kinder. Sarah, Bella und PJ. Eigentlich Peter junior. Er ist unser jüngster. Hier. Da haben Sie sie alle beisammen.« Er zog eine Brieftasche aus seinem Jackett und reichte sie Lynley. Darin war ein Familienfoto: zwei kleine Mädchen und ein Neugeborenes, das in eine blaue Decke gehüllt war,
Weitere Kostenlose Bücher