Undank Ist Der Väter Lohn.
mindestens dreimal die gesamte filmische Geschichte der Familie Britton abgespult. Der Ablauf war immer der gleiche: Er begann mit den frühesten Filmen, die irgendein Britton im Jahr 1924 aufgenommen hatte, und sah sich dann einen nach dem anderen in chronologischer Folge an, bis er an jenen Punkt gelangte, wo kein Britton mehr hinreichendes Interesse an der Familie aufgebracht hatte, um ihr Tun und Treiben mit der Kamera festzuhalten. Das filmische Werk mit seinen Bildern von Fuchsjagden, Angelausflügen, Ferienreisen, Fasanjagden, Geburtstags- und Hochzeitsfeiern endete etwa um die Zeit von Julians fünfzehntem Geburtstag, der Samanthas Berechnungen zufolge ziemlich genau auf den Zeitpunkt fiel, als Jeremy Britton sich bei einem Reitunfall drei Wirbel gestaucht hatte – eine längst verheilte Verletzung, die er noch heute als Vorwand benutzte, um sich mit Schmerz- und Rauschmitteln zu betäuben.
»Er wird sich mit diesem Gemisch aus Alkohol und Tabletten noch umbringen, wenn wir nicht aufpassen«, hatte Julian kurz nach ihrer Ankunft zu ihr gesagt. »Sam, würdest du mir helfen? Wenn du mir hier unter die Arme greifst, kann ich mich viel gründlicher um das Gut kümmern. Ich könnte vielleicht sogar einiges in Gang setzen ... Wenn du mir hilfst, meine ich.«
Und innerhalb von wenigen Tagen nach ihrer ersten Begegnung mit Julian hatte Samantha gewußt, daß sie für ihren Vetter alles tun würde. Einfach alles.
Jeremy Britton wußte das offenbar. Als er sie nämlich am späten Nachmittag aus dem Gemüsegarten kommen und in ihren Stiefeln durch den Hof stapfen hörte, kroch er ausnahmsweise aus seiner Höhle und ging zu ihr in die Küche, wo sie dabei war, das Abendessen vorzubereiten.
»Ah, hier bist du, mein Täubchen.« Schwankend stand er da, in dieser allen Gesetzen der Schwerkraft trotzenden Haltung, die so typisch für Betrunkene schien. In der einen Hand hielt er ein Glas: zwei zusammengeschmolzene Eiswürfel und ein Zitronenschnitz waren alles, was von seinem letzten Gin Tonic übriggeblieben war. Er war wie immer makellos gekleidet, von Kopf bis Fuß der englische Landedelmann. Trotz des warmen Spätsommerwetters trug er Tweedjackett, Krawatte und weite Knickerbocker aus einem dicken Wollstoff, die er aus dem Kleiderschrank eines seiner V orfahren ausgegraben haben mußte. Man hätte ihn für einen exzentrischen reichen Großgrundbesitzer halten können, der einen Schluck über den Durst getrunken hatte.
Er baute sich neben dem alten Eichentisch auf, genau dort, wo Samantha sich an die Arbeit machen wollte. Er schwenkte sein Glas, daß die Eisreste klirrten, und schlürfte mit zurückgelegtem Kopf das letzte bißchen Flüssigkeit. Dann stellte er das Glas neben das große Küchenmesser, das sie sich zurechtgelegt hatte. Sein Blick wanderte von ihr zu dem Messer und wieder zurück zu ihr, und er verzog den Mund zu einem trägen, weinseligen Lächeln.
»Wo ist denn unser Junge?« erkundigte er sich freundlich. Es hörte sich an wie »Woissn unscha Junge«. Das Grau seiner Augen war so blaß, daß die Iris beinahe wie ausgelöscht wirkte, und das Weiß der Augäpfel hatte einen starken Stich ins Gelbliche, genau wie die Haut seines Gesichts. »Ich hab unsern Julie heut noch gar nich hier rumschleichen sehen. Ich glaub, er is letzte Nacht gar nich nach Hause gekommen, unser kleiner Julie, beim Frühstück hat er sich nämlich nicht blicken lassen, wenn ich mich recht erinnere.« Jeremy wartet auf ihre Reaktion auf seine Bemerkungen.
Samantha nahm das Gemüse, das sie aus dem Garten mitgebracht hatte, aus dem Korb und legte einen Salatkopf, eine Gurke, zwei grüne Paprika und einen Blumenkohl ins Spülbecken. Sie begann das Gemüse zu waschen. Den Salatkopf spülte sie besonders gründlich. Sie haßte es, wenn sie beim Salatessen Sandkörnchen zwischen die Zähne bekam.
»Tja«, fuhr Jeremy mit einem Seufzer fort, »wir wissen ja wohl beide, was Julie getrieben hat, hm, Sam? Der Junge hat keine Augen im Kopf, der sieht das Gute gar nich, das so nahe liegt. Ich weiß nich, was wir mit ihm machen sollen.«
»Du hast doch keine Tabletten geschluckt, Onkel Jeremy?« fragte Samantha. »Wenn du die mit Alkohol zusammen nimmst, kann es gefährlich werden.«
»Ich leb immer gefährlich«, lachte Jeremy, und Samantha versuchte festzustellen, ob sein Lallen, ein Anzeichen des Grades seiner Alkoholisierung, schlimmer war als sonst. Es war kurz nach fünf, da war er seiner Zunge meist ohnehin nicht mehr
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