Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
einen weiteren winzigen Schritt nach vorn.
Der Stirnscheinwerfer kam geradewegs auf mich zu. Frontal. Ruckelnd und schwankend. Das machte die Abschätzung der Entfernung schwierig.
Dann hörte ich eine U-Bahn von rechts.
Ein Zug in Richtung Innenstadt, der aus der Gegenrichtung kam. Symmetrisch, aber nicht völlig synchron. Wie wenn ein zweiteiliger Vorhang zugezogen wird, wobei die linke Hälfte der rechten etwas voraus ist.
Um wie viel?
Ich brauchte drei Sekunden Verzögerung, damit mir insgesamt fünf Sekunden blieben, weil es viel länger dauern würde, auf den Bahnsteig gegenüber zu klettern, als hier ins Gleisbett hinunterzuspringen.
Ich zögerte eine volle Sekunde lang, rätselte, schätzte, fühlte, versuchte zu urteilen.
Die Züge kamen herangeröhrt, einer von links, der andere von rechts.
Fünfhundert Tonnen und noch mal fünfhundert.
Annäherungsgeschwindigkeit mindestens fünfzig Stundenkilometer.
Die Cops rückten näher heran.
Zeit, eine Entscheidung zu treffen.
Also los!
Ich sprang, als der Zug stadtauswärts noch dreißig Meter entfernt war. Ich landete auf beiden Füßen zwischen den Schienen, richtete mich auf und absolvierte die Schritte, die ich mir zurechtgelegt hatte. Wie Tanzfiguren in einem Buch. Rechter Fuß, linker Fuß hoch über die Stromschiene, Hände an den Pfeilern. So verharrte ich Bruchteile einer Sekunde lang, während ich nach rechts schaute. Der Zug stadteinwärts war schon sehr nahe. Hinter mir donnerte der Gegenzug vorbei. Seine Bremsen quietschten und kreischten. Sein stürmischer Fahrtwind zerrte an meinem Hemd. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich beleuchtete Zugfenster wie Stroboskopimpulse vorbeiziehen.
Ich starrte nach rechts.
Der Zug stadteinwärts wirkte riesig.
Zeit, eine Entscheidung zu treffen.
Also los!
Rechter Fuß hoch über die Stromschiene, linker Fuß aufs Gleisbett. Der Zug stadteinwärts war schon fast da. Nur noch wenige Meter entfernt. Er schwankte und ruckelte. Seine Bremsen packten kreischend zu. Ich konnte den Fahrer sehen. Sein Mund war weit aufgerissen. Ich konnte die vor seinem Führerstand aufgestaute Luft spüren.
Ich gab meine Choreografie auf. Stürzte mich einfach auf den anderen Bahnsteig. Er lag keine anderthalb Meter vor mir, schien aber endlos weit entfernt zu sein. Wie ein Präriehorizont. Aber ich erreichte ihn. Ich starrte nach rechts und konnte jede Niete, jede Schraube an der Frontseite des heranrasenden Zuges erkennen. Gleich würde er mich erfassen. Ich legte die Hände flach auf den Bahnsteig und schwang mich hinauf, fürchtete, die dicht gedrängte Menge würde mich wieder zurückstoßen. Aber Hände packten mich und zogen mich hoch. Der Zug donnerte an meiner Schulter vorbei, und der Fahrtwind warf mich herum. Beleuchtete Fenster flitzten vorbei. Ahnungslose Fahrgäste lasen Bücher und Zeitungen oder hielten sich im Stehen schwankend an Handgriffen fest. Überall um mich herum schrien Leute. Ich sah ihre in Panik aufgerissenen Münder, konnte sie aber nicht hören. Das Kreischen der Bremsen übertönte alles. Ich senkte den Kopf und bahnte mir einen Weg durch die Menge. Leute wichen nach beiden Seiten aus, um mich durchzulassen. Einige klopften mir auf die Schulter, als ich mich an ihnen vorbeidrängte. Vereinzelte Beifallsrufe folgten mir hinaus.
Das gab es nur in New York.
Ich schob mich durch ein Drehkreuz am Ausgang und hastete in Richtung Straße weiter.
57
Der Madison Square Park lag sieben Blocks nördlich. Bis zu dem vereinbarten Treff musste ich noch knapp vier Stunden totschlagen. Diese Zeit verbrachte ich damit, auf der Park Avenue South etwas zu essen und einzukaufen. Nicht weil ich besonders hungrig war. Nicht weil ich irgendetwas brauchte. Sondern weil es immer am besten ist, sich als Gejagter untypisch zu verhalten. Von Flüchtenden wird erwartet, dass sie schnell und weit fliehen. Niemand rechnet damit, dass sie ganz in der Nähe umherschlendern, sich in Cafés und Geschäften herumtreiben.
Inzwischen war es kurz nach sechs Uhr. Geöffnet hatten nur Lebensmittelgeschäfte, Supermärkte, Schnellrestaurants und Coffeeshops. Den Anfang machte ich in einem Food Emporium mit einem Eingang in der 14th und einem Ausgang in der 15th Street. Dort verbrachte ich eine Dreiviertelstunde. Ich nahm mir einen Einkaufskorb, wanderte durch die Gänge und tat so, als wählte ich Waren aus. Weniger verdächtig, als hier nur herumzuhängen. Weniger verdächtig, als ohne Einkaufskorb in den Gängen unterwegs
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