Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
sagen, ich sei indirekt an ihren Schwierigkeiten schuld. Aber nicht direkt. Und was geschehen ist, bedaure ich zutiefst. Glauben Sie mir bitte: Hätte ich gewusst, was passieren würde, hätte ich meiner Mutter ihren Wunsch abgeschlagen.«
Swetlana Hoth lächelte und nickte.
Ich fragte: »Mit welchen anderen Leuten?«
Lila Hoth antwortete: »Mit der eigenen Regierung, glaube ich. Mit Ihrer Regierung.«
»Wieso? Was wollte Ihre Mutter wirklich?«
Sie sagte, dazu müsse sie mir als Erstes den Hintergrund schildern.
36
Lila Hoth war erst sieben gewesen, als die Sowjetunion zerfiel, deshalb sprach sie darüber mit einer Art historischer Distanziertheit. Sie wahrte ebenso Abstand von früheren Realitäten wie ich von der Zeit der Rassendiskriminierung in Amerika. Sie erzählte mir, die Rote Armee habe sehr viele Politkommissare eingesetzt. Jede Kompanie habe einen gehabt. Die Befehls- und Disziplinargewalt hätten sich der Kommissar und ein Offizier widerstrebend geteilt. Sie sagte, Rivalität zwischen den beiden sei häufig und erbittert gewesen – nicht unbedingt zwischen den Individuen, sondern zwischen taktischer Vernunft und ideologischem Purismus. Sie vergewisserte sich, dass ich diese Ausgangslage verstand, bevor sie zu der eigentlichen Geschichte kam.
Swetlana Hoth war Politkommissarin einer Infanteriekompanie gewesen. Kurz nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 war ihre Kompanie dorthin verlegt worden. Zu Beginn waren die Kämpfe erfolgreich gewesen. In der Folge hatten sie sich katastrophal entwickelt. Die sowjetischen Verluste waren schwer gewesen – mit steigender Tendenz – und anfangs geleugnet worden. Dann hatte Moskau verspätet reagiert. Die Kriegführung war geändert, Kompanien waren zusammengelegt worden. Taktische Vernunft hatte für einen Ausbau von Feldlagern gesprochen, Ideologie neue Offensiven verlangt. Die Kampfmoral sollte durch einheitliche ethnische und geografische Abstammung gefördert werden. Allen Kompanien wurden jetzt Scharfschützenteams zugewiesen, erfahrene Scharfschützen und ihre Beobachter in den Hindukusch versetzt. So trafen Zweierteams aus harten Männern, die es gewöhnt waren, von dem zu leben, was es im Land gab, in Afghanistan ein.
Swetlanas Scharfschütze war ihr Mann, sein Beobachter Swetlanas jüngerer Bruder.
Die Lage hatte sich militärisch und persönlich erheblich verbessert. Swetlanas Familie und weitere regionale Gruppen hatten die dienstfreien Zeiten sehr glücklich verbracht. Die Kompanien verschanzten sich, bauten ihre Stellungen aus und waren nun einigermaßen vor Überfällen sicher. Die geforderte Offensivtätigkeit wurde durch den nächtlichen Einsatz von Scharfschützen abgedeckt. Die Ergebnisse waren ausgezeichnet. Russische Scharfschützen gehörten schon lange zu den besten der Welt. Die afghanischen Mudschaheddin wussten kein Mittel gegen sie. Ende 1981 hatte Moskau seine erfolgreichen Scharfschützen mit einem neuen Gewehr ausgerüstet. Es wurde erst seit kurzer Zeit produziert, war noch streng geheim und trug die Bezeichnung AS VAL Silent Sniper.
Ich nickte, sagte: »Ich habe mal eines gesehen.«
Lila Hoth lächelte kurz, mit gewisser Schüchternheit im Blick und womöglich einer Spur von Nationalstolz auf einen Staat, der nicht mehr existierte. Aber vielleicht nur mit einer Ahnung des Stolzes, den ihre Mutter damals empfunden haben musste. Denn das VAL war eine großartige Waffe: ein sehr präzises halbautomatisches Scharfschützengewehr mit Schalldämpfer. Es verschoss mit Unterschallgeschwindigkeit ein schweres Neunmillimetergeschoss, das alle bekannten Schutzwesten und schwach gepanzerten Militärfahrzeuge auf Entfernungen bis zu vierhundert Metern durchschlagen konnte. Geliefert wurde es mit verschiedenen Zielfernrohren und elektronischen Nachtsichtgeräten. Für den Gegner war es ein Albtraum. Man konnte ohne die geringste Vorwarnung erschossen werden: lautlos, plötzlich und willkürlich, auf einem Feldbett im Zelt, auf der Latrine, beim Essen, beim Anziehen, auf Tag- oder Nachtmärschen.
Ich sagte: »Es war eine gute Waffe.«
Lila Hoth lächelte erneut. Aber dann verblasste ihr Lächeln. Nun kamen die schlechten Nachrichten. Die stabile Lage hielt nur etwa ein Jahr an. Die guten Leistungen der sowjetischen Infanterie führten zwangsläufig dazu, dass sie immer gefährlichere Aufträge erhielt. Das war weltweit schon immer so. Man bekommt kein Schulterklopfen und eine Fahrt nach Hause, sondern eine
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