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Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)

Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)

Titel: Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
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Landkarte in die Hand gedrückt. Swetlanas Kompanie gehörte zu den vielen, die durchs Korengaltal nach Nordosten vorstoßen sollten. Durch dieses Tal zwischen den steil aufragenden Gebirgszügen Hindukusch und Abas Ghar verlief die einzige befahrbare Route aus Pakistan. Der zehn Kilometer lange Trail war eine wichtige Nachschubroute der Mudschaheddin für Truppen vor ihrer Nordwestfront und musste dringend unterbrochen werden.
    Lila erklärte: »Die Engländer haben vor über hundert Jahren ein Buch über Kriegführung in Afghanistan geschrieben. Wegen ihres Empires. Darin steht, wer eine Offensive plane, müsse immer auch schon den unvermeidlichen Rückzug im Blick haben. Und man solle die letzte Kugel für sich selbst aufsparen, weil man nicht lebend gefangen werden wolle – besonders nicht von den Frauen. Die Kompaniechefs hatten dieses Buch gelesen. Die Politkommissare hatten Anweisung, das nicht zu tun. Ihnen wurde erklärt, der Misserfolg der Briten sei letztlich auf ihre politische Labilität zurückzuführen gewesen. Die kommunistische Ideologie sei rein und stark und uns daher der Sieg sicher. Mit dieser Selbsttäuschung hat unser eigener Vietnamkrieg begonnen.«
    Der durch Artillerie und Kampfhubschrauber unterstützte Vorstoß das Korengaltal hinauf kam nach fünf Kilometern fast zum Stehen. Weitere anderthalb Kilometer wurden einem Gegner abgerungen, der nach Ansicht der Mannschaften erbittert kämpfte, während die Offiziere etwas von seinem sonstigen Elan vermissten.
    Die Offiziere hatten recht.
    Das Tal war eine Falle.
    Die Mudschaheddin warteten ab, bis die sowjetischen Nachschublinien über sechs Kilometer lang waren, dann schlugen sie zu. Die Versorgung durch Hubschrauber wurde durch Unmengen von amerikanischen Fla-Raketen des Typs Stinger weitgehend unterbunden. Koordinierte Angriffe schnitten die Frontausbuchtung ab. Ende 1982 waren Tausende von Rotarmisten ohne Hoffnung auf Entsatz in einer langen, schmalen Kette aus unzulänglichen und improvisierten Lagern eingekesselt. Das Winterwetter war schrecklich. Ständig tobten eisige Stürme über den Pass und das Hochtal. Und überall wuchsen immergrüne Stechpalmen. Im richtigen Kontext hübsch und malerisch – aber nicht für Soldaten, die zwischen ihnen arbeiten mussten. Ihre Blätter raschelten bei Wind unangenehm laut, behinderten jegliche Mobilität, zerfetzten Haut und zerrissen Uniformen.
    Dann begannen die Störangriffe.
    Gefangene wurden gemacht, einzeln oder paarweise.
    Ihr Schicksal war schrecklich.
    Lila zitierte aus einem düsteren Gedicht des englischen Schriftstellers Rudyard Kipling über fehlgeschlagene Offensiven, stöhnend auf dem Schlachtfeld liegende Verwundete und grausame Afghaninnen mit Messern: »Wenn du verletzt auf afghanischen Feldern liegen bleibst und wenn die Frauen kommen und klein schneiden, was übrig bleibt, dann wälz dich zu deinem Gewehr rüber und schieß dir das Hirn raus und geh zu deinem Gott wie ein Soldat.« Dann sagte sie, was auf dem Höhepunkt der Macht des Britischen Empires wahr gewesen sei, gelte noch heute. Rotarmisten verschwanden, und Stunden später trug der Winterwind in der Nacht ihre Schreie aus unsichtbaren Feindeslagern ganz in der Nähe herüber. Das Schreien begann verzweifelt hoch und steigerte sich langsam zu einem irrsinnigen Heulen. Manchmal war es zehn oder zwölf Stunden lang zu hören. Die meisten Toten wurden nie gefunden. Aber manchmal lagen am Rand russischer Lager verstümmelte Leichen, denen Hände und Füße, ganze Glieder, Köpfe, Ohren, Augen, Nasen oder Geschlechtsteile fehlten.
    Oder die Haut.
    »Manchen wurde bei lebendigem Leib die Haut abgezogen«, berichtete Lila. »Die Kälte wirkte bis zu einem gewissen Grad als Anästhetikum und verhinderte, dass sie allzu schnell an Schock starben. Dieser Vorgang dauerte manchmal sehr lange. Manche wurden bei lebendigem Leib auf Feuern geröstet. Vor unseren Linien wurden Pakete mit gebratenem Fleisch abgelegt. Anfangs hielten die Männer sie für Essensgeschenke, vielleicht von mitfühlenden Einheimischen. Aber ihnen wurde sehr bald klar, was sie enthielten.«
    Swetlana Hoth starrte ausdruckslos vor sich hin, schien ihre Umgebung gar nicht wahrzunehmen und wirkte finsterer als je zuvor. Vielleicht weckte der Tonfall ihrer Tochter alle möglichen Erinnerungen in ihr. Jedenfalls erzählte Lila mit bezwingender Überzeugungskraft. Sie hatte die Ereignisse, die sie schilderte, nicht selbst gesehen oder durchlitten, aber sie

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