Underground
Sobald ich die Wohnung betrat, meldete sich Chaos in seinem Käfig. Ich ließ ihn raus, und er begann sogleich begeistert durch das Wohnzimmer zu turnen. Ich stellte mich unter die Dusche und wärmte mir dann zum Abendessen eine Suppe auf. Das Frettchen war mir ins Badezimmer gefolgt, hatte aber bald die Lust verloren, dem rieselnden Wasser zuzusehen, und war verschwunden, als ich wieder herauskam.
Ich entdeckte Chaos im Wohnzimmer, wo er es sich auf einem quietschenden Plastikspielzeug in der Form einer kleinen Aubergine bequem gemacht hatte, auf dem Richard Nixons Gesicht abgebildet war. Zärtlich hob ich ihn hoch und legte ihn auf meinen Schoß, während ich aß. Lange hielt er es dort nicht aus. Er glitt am Stuhlbein zu Boden, wanderte durchs Zimmer und legte sich dann mit
einem lauten Seufzer auf den Teppich, um mich von dort aus vorwurfsvoll anzusehen. Ganz offensichtlich erfüllte ich augenblicklich keine der Erwartungen, die an mich gestellt wurden. Chaos’ Blick brachte mir das deutlich zu Bewusstsein.
Ich wurde wütend. Am liebsten hätte ich jemanden angeschrien und genau erklärt, was man von mir erwarten durfte und was nicht. Chaos war zwar nicht der richtige Ansprechpartner, aber ich wusste nicht, an wem ich sonst meinen Frust auslassen konnte.
SIEBEN
H arper, du solltest besser wieder herkommen.«
Es war fünf Uhr morgens, sodass ich einen Moment brauchte, um Quintons Stimme zu erkennen. »Was ist passiert?«, murmelte ich beinahe automatisch.
»Man hat einen weiteren Toten gefunden. In der Nähe des Parks.«
Mühsam setzte ich mich im Bett auf. »Welcher Park?«
»Der zwischen Occidental Avenue und Waterfall Avenue. Die Polizei hat bereits die Gegend abgesperrt, sodass ich nicht herausfinden konnte, wen es erwischt hat oder was wirklich los ist.«
»Du glaubst aber, dass es sich wieder um eine ähnlich verstümmelte Leiche handelt wie am Donnerstag?«
»Darauf könnte ich wetten.«
Ich stöhnte. »Toll. Ich bin gleich da.«
Ich spritzte mir nur kurz etwas Wasser ins Gesicht, ehe ich mir mehrere Pullover, Jeans, Stiefel und einen Wollmantel anzog. Über Nacht war ein wenig Schnee gefallen, und die Luft schien nicht wärmer zu sein, auch wenn im Radio behauptet wurde, dass die Temperatur um gute fünf Grad gestiegen sei. Meine Wohnung lag in einer der kältesten Gegenden der Stadt. Ich nahm an, dass der Wetterdienst von Boing Field aus berichtete, wo die schier unendliche
Asphaltwüste des Flughafens die Luft immer ein wenig mehr anheizte.
Vorsichtig fuhr ich über die vereisten Straßen von West Seattle, um dann über die Brücke nach Downtown zu gelangen. Hier gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass es geschneit hatte. Die Brise, die von Puget Sound kam, war wärmer, wenn auch nicht so warm wie sonst im Januar.
Als ich bei meinem Büro eintraf, sah ich bereits einige Polizeiautos, einen Krankenwagen, städtische Einsatzwägen und ziemlich viele offiziell aussehende Leute, die sich um den Occidental Park versammelten. Ich stellte den Rover auf meinem üblichen Parkplatz ab und ging dann einen Block zurück Richtung Park.
Der Pioneer Square war beinahe leer. Noch war es zu früh und zu kalt, als dass bereits der übliche Wochenendtrubel eingesetzt hätte. Das ungewöhnliche Treiben südlich des Platzes zog deshalb all diejenigen geradezu magisch an, die doch schon auf den Beinen waren. Auf meinem kurzen Weg traf ich auf Zip und einen anderen Obdachlosen, den ich in der Nacht zuvor kennengelernt hatte. Zip winkte mir zu, und ich gesellte mich zu ihm. Vermutlich waren die beiden so früh hierhergekommen, um die Mülltonnen hinter den Bars nach Flaschen zu durchsuchen, in denen sich noch ein wenig Whisky oder Bier befand und die in der Nacht zuvor achtlos weggeworfen worden waren.
Zip roch, als ob er sich bereits ein paar Schluck genehmigt hätte.
Wir gingen zu dritt den Block entlang und bogen gleich neben den Totempfählen in den Occidental Park ein. Unter den großen Holzstatuen lag eine Gestalt, die laut unter einer Wolldecke schnarchte. Offensichtlich war für sie das
Wetter nicht zu kalt. Zip und sein Freund blieben neben dem Schläfer stehen und musterten misstrauisch die Polizisten, während ich weiterging.
Gerade fuhr ein graubrauner Mini-Van vorbei, der den städtischen Pathologen gehörte. Der Wagen kam nur in Schrittgeschwindigkeit voran, sodass ich ihm problemlos durch die Menge bis zum südlichen Ende des Occidental Park folgen konnte. Er blieb an der Stelle stehen, wo der
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