Underground
Fragen Quinton und ich den Leuten auch stellten, keiner schien eine nützliche Information über das Jahr 1949 oder über die Geister der Eingeborenen zu haben. Auch über Zombies oder Monster, die Menschen fressen, wusste niemand etwas. Allerdings fiel mir auf, dass die Indianer hier unten alle einen ausgeprägten Beschützerinstinkt für diesen Ort entwickelt hatten. Als wir in einer anderen Gruppe auf weitere stießen, sprachen auch sie ähnlich besitzergreifend wie Grandpa Dan über das Watt und erklärten uns, hier unten noch am ehesten das Gefühl zu haben, ihr altes Land wieder besiedeln zu dürfen.
»Weißt du, wie wir diesen Ort nannten, bevor eure Leute kamen?«, fragte einer.
»Nein«, erwiderte ich.
»Duwamps. Lustiges Wort, was? Es bedeutet ›gutes Fischen‹, weil man hier viele Muscheln und Treibholz für das Feuer gefunden hat. So war unser Leben, bevor die Reservate gegründet wurden.«
Ein anderer Mann warf etwas in einer mir fremden Sprache ein, und derjenige, der gerade mit mir gesprochen hatte, antwortete im selben Sing-Sang. Die beiden lachten, und die Flaschen mit Alkohol wurden weitergereicht.
Ähnlich verlief das bei jeder Gruppe, wenn man über
das Watt sprach. Quinton und ich hörten stets, wie stolz die Leute selbst noch in einem halb betrunkenen Zustand und hier unten im Dunklen auf diese Gegend waren. Sie schienen sich vehement gegen das Vergessen und die Verachtung einer Gesellschaft zu wehren, die noch immer versuchte, ihr früheres Unrecht zu verdrängen.
Wir liefen stundenlang durch den Untergrund. Es ging versteckte Treppen hinauf und hinunter, durch verborgene Türen, Löcher und Gitter, und als Quinton und ich schließlich beschlossen, aufzuhören, war ich genauso verdreckt wie die Obdachlosen. Und ebenso müde. Ich stolperte über ein besonders großes Stück Schutt, das im Weg lag, und merkte, wie der Absatz meines Stiefels abbrach. Gleichzeitig schoss mir ein unangenehmer Schmerz in das sowieso schon angeschlagene Knie.
»Na ja«, murmelte ich, als Quinton mich gerade noch rechtzeitig festhielt. »Ich habe die Stiefel sowieso nie sonderlich gemocht.« Um meinen Mantel tat es mir mehr leid. Einer der Ärmel war zerfetzt, und der Stoff war derart schmutzig, dass ich bezweifelte, ihn jemals wieder sauber zu bekommen.
Quinton hielt mich eine Sekunde länger als nötig fest, was mir allerdings nicht unangenehm war. »Alles in Ordnung?«, fragte er mich mit einer etwas heiser klingenden Stimme.
Ich sah hastig weg. »Warum fragst du mich das immer wieder? Ich bin schließlich keine fragile Blüte der Weiblichkeit«, entgegnete ich und schaute an mir herab. Ich hatte zwar nicht mehr den athletischen, durchtrainierten Körper, den ich als Tänzerin mein Eigen hatte nennen können, aber meiner Meinung nach war es kein Nachteil, über den Muskeln nun auch ein kleines Polster zu haben. Au
ßerdem gefiel es mir, nun statt der Tanzschuhe meist etwas schwerere Treter zu tragen. Und natürlich hatte ich jetzt auch eine Waffe zur Verfügung …
»Ich weiß, aber … Es ist eine gute Ausrede, um deine Hand zu halten.« Dann zwang er sich zu einem Grinsen, um die Spannung etwas zu lösen. »Ich wohne schließlich in einem Bunker, wie du weißt. Hier unten bekommt man nicht oft die Gelegenheit, attraktive Frauen berühren zu dürfen. Eigentlich überhaupt keine Frauen.«
»Danke, jetzt fühle ich mich wie etwas ganz Besonderes«, entgegnete ich.
»Ich tue mein Bestes.« Er runzelte die Stirn. »Aber du solltest jetzt nach Hause.«
»Bist du denn meine Gesellschaft schon leid?«
»Nein. Aber du kannst dich kaum mehr auf den Beinen halten. Ich habe dich schon sehr früh geweckt. Und eine Dusche könntest du auch gebrauchen. Du riechst nach Keller und muffigen Gassen.«
Ich rümpfte die Nase. »Ich weiß. Außerdem schmerzt mein verdammtes Knie, und ich bin viel zu müde, um dir klarzumachen, wie lausig es von dir ist, mir das alles so direkt zu sagen.«
»Da habe ich ja nochmal Glück gehabt. Ich mag es nämlich gar nicht, wenn du mich als lausig bezeichnest. Ich bade regelmäßig! Läuse habe ich bestimmt nicht.«
Ich musste lachen und zog mir die Jacke enger um die Schultern. »Ich muss jetzt wirklich nach Hause.«
»Bist du überhaupt noch in der Lage, Auto zu fahren?«
»Ja, bin ich«, erwiderte ich. Das stimmte auch. Bis nach West-Seattle würde ich es heute Nacht bestimmt noch schaffen, aber viel weiter wohl nicht. Doch ich hatte nicht
vor, Quinton das auf die Nase zu
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