Underground
Geschichte von Seattle. Die mag vielleicht in den Erzählungen der jeweiligen Tourführer etwas ausgeschmückt werden, aber die Tatsachen sind dieselben. Wenn es jemanden gibt, der etwas über die Geschichte des Untergrunds und die seltsamen Ereignisse dort unten weiß, dann sind es bestimmt die Leute von dieser Tour.«
Wir schlitterten mehr schlecht als recht den Hügel zum Square hinunter und schafften es gerade noch, uns der letzten Tour des Tages anzuschließen. Zwar hatten wir die einleitenden Sätze des Führers bereits verpasst, aber da die Gruppe klein und das Wetter miserabel war, hatte die Frau an der Kasse nichts dagegen, dass wir uns noch
einklinkten, obwohl die anderen bereits Richtung Totempfahl unterwegs waren.
Unser Führer stellte sich als ein großer, schlaksiger Mann Mitte fünfzig heraus, der ein Auge mit einem hängenden Lid hatte und Haare, die ihr ursprüngliches Rot allmählich verloren und grau wurden. Seine Stimme klang klar und deutlich, ohne zu laut zu sein, während seine Art des Erzählens lustig genug auf die kleine Gruppe wirkte, um sie davon abzuhalten, ständig vor Kälte von einem Fuß auf den anderen zu springen.
»Ich weiß, dass es hier draußen ziemlich kalt ist. Deshalb möchte ich diesen Teil auch so kurz wie möglich halten, damit wir rasch in den Untergrund steigen können. Ein Großteil der Gegend, durch die wir kommen, ist abgesperrt, und natürlich alles in Privatbesitz. Ich möchte Sie also bitten, immer in meiner Nähe zu bleiben und nichts auf eigene Faust zu erkunden. Es ist dort unten völlig sicher, solange Sie auf den Holzsteigen und den freigeräumten Wegen bleiben. Wir haben einen Vertrag mit den Ratten abgeschlossen, die sich nicht zeigen, solange man nicht mutterseelenallein durch die Kanäle wandert. Es ist also für alle das Beste, wenn Sie bei der Gruppe bleiben. Befinden sich Kinder unter uns? Nein? Schade. Normalerweise benutzen wir sie als Köder. Aber in diesem Fall müssen eben die Erwachsenen herhalten.«
Das brachte ihm ein paar Lacher ein.
Der Mann, dessen Namen wir leider verpasst hatten, erzählte uns kurz etwas über den Totempfahl, der von den Stadtgründern auf einer Reise nach Alaska gestohlen, in dem großen Feuer verbrannt und erst vor kurzem wieder ersetzt worden war. Außerdem erklärte er uns, dass der Laubengang, der ursprünglich als Bushaltestelle erbaut
worden war, durch einen Laster umgefahren wurde und ebenfalls hatte ersetzt werden müssen.
»Unglücklicherweise«, fuhr er fort, »hielt die Stadtverwaltung es für das Beste, die Gegend durch mehr Beton im Untergrund zu stabilisieren, nachdem sie den Laubengang errichtet hatte. Wie Sie wahrscheinlich nicht wissen, gab es dort unten die schicksten Toiletten, die man sich vorstellen kann. Sie wurden ebenso wie der Laubengang für die Alaska-Yukon-Pacific-Ausstellung im Jahr 1909 erbaut und galten als die luxuriösesten unterirdischen Toiletten der Welt. Dort gab es Marmorböden, Wandmalereien, ja sogar einen Schuhputzer, einen Friseur und einen Schneider, der kleine Reparaturen ausführte. Die Leute kamen von überallher, um sich diesen Ort anzusehen und ihn als Vorbild für eigene Entwürfe zu verwenden.«
Einer der Touristen hob die Hand und fragte, ob die Toiletten noch immer existierten.
Der Historiker schüttelte den Kopf. »Ja und nein. Leider sind sie inzwischen hinter einem Betonwall versiegelt. Die großen dekorativen Laternenpfähle, die Sie hier um den Pioneer Square sehen, sind in Wirklichkeit Ventilationsschächte für die Toiletten im Untergrund. Das Gleiche gilt übrigens für die Träger des Laubengangs. Aber jetzt sollten wir uns wirklich auf den Weg nach unten machen.«
Die Gruppe folgte dem großen Mann über den Platz in die First Avenue, die wir etwa einen halben Block weit entlangliefen. Der Typ erzählte ununterbrochen, was ich aber nicht immer verstand, da ich zu weit entfernt war. Zum Glück ging es recht langsam voran, und auch die Distanz war nicht allzu groß, sodass ich trotz meines heftig pochenden Knies gut mitkam.
Wenige Minuten später öffnete unser Führer ein Eisengitter
und führte uns eine Treppe mit Geländer hinunter bis zu einer Metalltür. Diese war in ein Gebäude aus mehreren Ziegelbögen eingelassen, das mich sehr an den Ort erinnerte, wo Quinton und ich den Vampir dabei ertappt hatten, wie er Blue Jay attackierte. Wir setzten unsere Tour unter dem Trottoir auf einem hölzernen Steg fort, vorbei an zahlreichen Schuttbergen und
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