Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
hat, gegen Papa zu kämpfen. Er ist ja nicht verrückt. Trotzdem hebt er das Kinn, hält einige Sekunden lang Papas sengenden Blick und lächelt. «Irgendwann lässt sich die Liebe für sie nicht mehr verstecken. Auch in dir steckt ein Wächter, Michael.»
Das Leuchten um Papa herum wird heller. Er flüstert ein Wort, das sich in meinen Ohren anfühlt wie der Wind, und auf einmal sehe ich seine Flügel. Sie sind riesig und weiß, von einem reinen, sanften Weiß, das die Sonne reflektiert, und so ist es schwer, sie direkt anzusehen. Noch nie habe ich etwas so Prachtvolles gesehen wie meinen Vater – mir wird die Kehle eng, wenn ich ihn so nenne –, dieses Wesen aus Güte und Licht, das dort steht, um mich zu beschützen. Er ist mein Vater. Ich bin ein Teil von ihm.
«Ich werde dich unter meinem Fuß zertreten», sagt er leise. «Verschwinde. Und lass dich nicht mehr blicken.»
«Kein Grund, so heftig zu werden», sagt Samjeeza und macht einen Schritt nach hinten. «Schließlich bin ich ein Liebender, kein Kämpfer.»
Dann schließt er die Augen und verschwindet.
Papas zieht die Flügel wieder ein. Er kommt über die Wiese auf mich zu.
«Danke», sage ich.
Er sieht traurig aus. «Bedank dich nicht. Ich habe dich gerade in größere Gefahr gebracht, als du ahnst. Und jetzt», sagt er in völlig anderem Tonfall, «würde ich sehr gern deinen Freund kennenlernen.»
Wir warten auf den Schulgong. Schüler strömen auf die Flure. Vor uns teilt sich die Menge, sie umrunden Papa weiträumig, starren ihn an.
Papa wirkt ein bisschen überanstrengt.
«Alles in Ordnung mit dir?», frage ich. Ich überlege, ob ihm wohl zu schaffen macht, dass Samjeeza ihn mit einem Wächter verglichen hat.
«Alles bestens», sagt er. «Ich muss mich nur in Gegenwart so vieler Leute mehr anstrengen, den Glanz zurückzuhalten. Sonst fallen die noch auf die Knie und fangen an zu beten.»
Es hört sich an wie ein Scherz, aber ich weiß, dass es keiner ist. Er meint das vollkommen ernst.
«Wir müssen ja nicht bleiben. Wir können auch wieder gehen.»
«Nein, ich will diesen Jungen, diesen Tucker, kennenlernen.»
«Papa. Er ist kein Junge.»
«Willst du nicht, dass ich ihn kennenlerne?», fragt er mit der Andeutung eines Lächelns. «Hast du Angst, dass ich ihn verschrecke?»
Ja.
«Nein», sage ich. «Aber reiß dich wirklich zusammen, okay? Bis jetzt ist er ziemlich cool mit dem ganzen verrückten Zeug umgegangen. Aber ich will es nicht auf die Spitze treiben.»
«Verstanden. Ich werde ihm nicht mit der ewigen Verdammnis drohen, für den Fall, dass er meine Tochter nicht gut behandelt.»
«Papa. Ernsthaft.»
Jeffrey erscheint am anderen Ende des Korridors. Er spricht mit einem seiner Kumpel, lächelt. Er sieht uns. Das Lächeln auf seinem Gesicht verblasst. Er wirbelt herum und verlässt das Gebäude durch den Hinterausgang.
Papa starrt ihm hinterher.
«Der kriegt sich schon wieder ein», sage ich zu meinem Vater.
Er nickt geistesabwesend, dann sagt er: «Also, dann mal los. Ich verspreche, ich werde mich benehmen.»
«Na schön. Dann komm. Sein Schließfach ist dahinten.»
Wir gehen den Korridor entlang zu Tuckers Schließfach. Er steht dort, wie ich es erwartet hatte, und blättert hektisch in seinen Notizen. Will in letzter Minute noch was für die Spanischklausur lernen, mit der er seine Note verbessern kann.
«Hola» , sage ich und lehne mich neben ihm gegen das Schließfach. Auf einmal flattern mir die Nerven. Ich bin dabei, meinem Freund meinen Vater vorzustellen. Echt gewaltig.
«Hallo», sagt er, ohne aufzuschauen. «Was war los in Staatsbürgerkunde? Du bist einfach raus.»
«Ich musste mich um etwas kümmern.»
«Was heißt auf Spanisch ‹Schule schwänzen›?», fragt er trocken. «Mi novia, la chica hermosa, que huye.» Heißt übersetzt: Meine Freundin, das schöne Mädchen, das flüchtet.
«Tuck.»
«Sorry», sagt er und schaut immer noch nicht auf. «Diese Klausur geht mir echt an die Nieren. Echt wahr, meine Hände schwitzen, und mein Herz rast, und ich stehe kurz vor einer Panikattacke. Glaube ich jedenfalls. Ich hatte noch nie eine Panikattacke. Aber mir bleiben nur noch knapp drei Minuten, um mein Hirn mit nützlichen Informationen zu füllen.»
«Tuck, kannst du gerade mal kurz aufhören damit? Ich möchte dich mit jemandem bekannt machen.»
Er schaut auf, sieht meinen Vater hinter mir stehen. Erstarrt.
«Tucker, das ist mein Vater, Michael. Papa, das ist Tucker Avery.»
Papa lächelt, hält
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