Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
verstehe ich. Endlich fange ich an zu verstehen. Nicht dass dadurch wieder alles gut wird. Aber es hilft.
Ich lächle Papa an und entschuldige mich. Dann gehe ich rauf in mein Zimmer zu meinen Hausaufgaben. Ich sitze kaum zehn Minuten über der Arbeit, als Christian auf dem Dach landet. Sofort kommt er zum Fenster und steht da, starrt mich an, dann klopft er an die Scheibe.
Ich mache das Fenster auf. «Du sollst doch nicht herkommen. Es ist nicht sicher. Da treibt sich ein Schwarzflügel rum, weißt du nicht mehr?»
Der Blick aus seinen grünen Augen ist durchdringend; er mustert mich. «Das ist aber komisch, denn ich meine, heute gesehen zu haben, wie ein Engel Samjeeza von dem Feld vertrieben hat. Deswegen habe ich gedacht, dass es jetzt sicher ist.»
«Das hast du gesehen?»
«Ich war auf dem Flur, in der zweiten Etage, und habe am Fenster gestanden. Ziemlich beeindruckend, fand ich. Diese Flügel, Wahnsinn.»
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Also sage ich etwas Blödes. «Willst du reinkommen?»
Er zögert. In meinem Zimmer ist er noch nie gewesen. «Na gut.»
Die Mädchenhaftigkeit meines Zimmers, die Menge von rosafarbenem Zeug, das überall herumliegt, ist mir peinlich. Mit einem Fußtritt befördere ich einen rosa Teddy unters Bett, schnappe einen BH, der über einem Bettpfosten drapiert hängt, und versuche diskret, ihn in meinem Wäschekorb zu versenken. Dann schiebe ich mir eine vorwitzige Haarsträhne hinters Ohr und bemühe mich, meinen Blick auf Gott weiß was zu richten, bloß nicht auf Christian.
Auch er wirkt verlegen und scheint nicht genau zu wissen, wie man sich in solch einer Situation verhält. Es kann sich wohl jeder unseren Riesenschrecken vorstellen, als es genau in dem Moment leise an meiner Tür klopft und Papa hereinkommt.
«Ach, guten Abend», sagt er, den Blick auf Christian gerichtet.
«Papa! Also … also das ist …»
«Christian Prescott», hilft mir Papa aus der Verlegenheit. «Diese Augen sind unverkennbar.»
Christian und ich schauen uns an; Christian ist total verwirrt, dass mein Vater offenbar über ihn Bescheid weiß, und ich schäme mich in Grund und Boden, weil Christian nicht denken soll, ich hätte meinem Vater gegenüber von seinen Augen geschwärmt.
«Ich bin Michael. Claras Vater», sagt Papa und streckt die Hand aus.
Merkwürdig, wie er das jedes Mal auf genau die gleiche Weise sagt.
Papa lächelt. «Wirklich bemerkenswert, wie sehr du deiner Mutter ähnelst.»
«Sie kannten meine Mutter?» Christians Stimme klingt so neutral, dass es beinah wehtut.
«Sehr gut sogar. Sie war eine charmante Frau. Eine tolle Frau.»
Christian schaut einen Moment lang zu Boden, dann guckt er wieder hoch und meinem Vater direkt in die Augen. «Danke.» Danach sieht er rüber zu mir, sein Blick ruht auf meinem Gesicht, als sähe er es auf eine völlig neue Weise. «Tja, dann mache ich mich wohl mal wieder auf den Weg», sagt er schließlich. «Ich wollte mich nur davon überzeugen, dass es Clara gutgeht, nachdem sie doch heute mitten im Unterricht die Schule verlassen hat.»
Papa sieht äußerst zufrieden aus; ihm gefällt der Gedanke, dass Christian sich offenbar um mich kümmert. «Meinetwegen musst du nicht gehen. Ich lasse euch allein, dann könnt ihr reden.»
Und tatsächlich geht er. Und er macht beim Hinausgehen sogar noch die Tür zu. Welcher Vater lässt seine siebzehnjährige Tochter nachts allein in ihrem Zimmer mit einem Jungen und schließt auch noch die Tür hinter sich? Er hat noch einiges nachzuholen, was elterliche Fürsorge angeht, denke ich. Oder er sieht sich gar nicht in der Rolle des fürsorglichen Vaters. Oder er geht davon aus, dass Christian wohl kaum so verrückt wäre, irgendetwas Unangemessenes anzustellen, wenn sich auf der anderen Seite der Tür ein Engel befindet.
«Also», sagt Christian nach einer Weile. «Dein Vater ist ein Engel.»
«Ist wohl so.»
«Der ist irgendwie cool.»
«Stimmt. Cooler, als ich ihm je zugetraut hätte.»
«Freut mich für dich», sagt er.
Er freut sich tatsächlich. Ich spüre das. Er freut sich aufrichtig darüber, dass ich einen Vater habe, der sich um mich kümmert, der mächtig genug ist, um mich zu beschützen, der in dieser schweren Zeit jetzt für mich da ist. Allerdings ist da noch etwas, das er mir sagen will. Ganz deutlich ist es zu spüren, als ob es alle anderen Gedanken in seinem Kopf überlagert; und er denkt, dass dieses Etwas, das er sagen will, uns mehr denn je aneinanderbindet. Aber
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