Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
er hält es zurück.
«Na komm schon. Was ist?»
Er sieht mich an, mit diesem rätselhaften, schmallippigen Lächeln.
«Ich will mit dir zu einem ganz bestimmten Ort, gleich morgen nach der Schule. Kommst du mit?»
Ich muss erst meine Stimme wiederfinden. «Klar.»
«Okay. Gute Nacht dann, Clara.» Er geht zum Fenster und tritt hinaus.
«Gute Nacht», sage ich leise hinter ihm, und dann sehe ich zu, wie er seine Flügel erscheinen lässt, diese prachtvollen gefleckten Flügel, und sich in die Lüfte hebt.
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Der Moment, in dem ich dich küsse
Ich mache mich völlig verrückt, weil ich mich immer wieder frage, wohin mich Christian wohl bringen will, aber als er am nächsten Tag nach der Schule zu meinem Schließfach kommt, zögere ich aus irgendeinem Grund. Wieso, weiß ich nicht genau. Vielleicht weil er mich jetzt so unverwandt ansieht, mit seinen warmen goldgefleckten Augen.
«Bist du fertig?», fragt er.
Ich nicke. Wir treten in den Sonnenschein hinaus. Nicht einmal ein Hauch von Samjeeza ist zu spüren. Papa muss ihn ein für alle Mal vertrieben haben, denn plötzlich hat Mama überhaupt kein Problem mehr damit, dass Jeffrey und ich geheiligten Boden verlassen.
Christian öffnet die Tür seines Trucks, und ich klettere hinein. Als wir vom Parkplatz fahren, gebe ich mir Mühe, die Umgebung nicht nach Tucker abzusuchen. Er hat mich gestern Abend angerufen, und wir haben versucht, über meinen Vater zu reden, doch viel hatten wir beide nicht zu sagen. Ich habe es nicht fertiggebracht, ihm einfach so zu erklären, dass mein Vater ein Engel ist, obwohl er es wahrscheinlich schon erraten hat. Es mit Sicherheit zu wissen wäre zu gefährlich für ihn, ein Stückchen Information, das Samjeeza ihm liebend gern aus dem Hirn reißen würde. Je weniger er weiß, desto sicherer ist es für ihn, das ist mir klargeworden. Aber eigentlich kann er gar nicht in der Nähe sein – er hat morgen einen Rodeo-Wettbewerb und hat die Schule früher als üblich verlassen, um noch ein paar Extrastunden Training einzuschieben. Er war besorgt, aber er hat mich nicht gefragt, was ich vorhabe. Und ich habe von mir aus nichts erzählt.
Christian biegt auf eine unbefestigte Straße ab, die sich hinter der Stadt am Berghang in die Höhe schraubt. Ich entdecke ein Schild und drehe den Kopf, um zu lesen, was darauf steht.
ASPEN HILL FRIEDHOF.
Auf einmal fühlt es sich an, als würde in mir alles zu Stein werden. «Christian …»
«Ist schon gut, Clara.» Er fährt an den Straßenrand, schaltet den Motor aus. Dann öffnet er die Tür an seiner Seite, springt raus und dreht sich zu mir um. «Vertrau mir.» Er hält mir die Hand hin.
Es kommt mir vor, als bewegte ich mich in Zeitlupe, als ich ihm die Hand reiche und zulasse, dass er mich auf seiner Seite aus dem Truck zieht.
Wunderschön ist es hier. Grüne Bäume, raunende Espen, der Ausblick auf die fernen Berge.
Ich hatte nicht erwartet, dass es so schön sein würde.
Christian führt mich von der Straße in den Wald. Wir gehen um Gräber herum, die meisten mit dem üblichen Grabstein aus Marmor, nichts Ausgefallenes, schlichte Inschriften mit Namen und Daten. Dann erreichen wir ein paar Betonstufen, Stufen mitten im Wald mit einem langen Geländer aus schwarz gestrichenem Metall auf der einen Seite. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich die Stufen sehe, eine Masse von Grau, die sich in mein Sichtfeld drängt, etwas, das ich im letzten Jahr immer wieder gespürt habe, bevor sich die Vision einstellte. Ich beiße mir so fest auf die Unterlippe, dass ich Blut zu schmecken meine. Aber ich gehe nicht, ich eile nicht sofort voraus zum Tag von Mamas Beerdigung. Ich bleibe hier. Hier mit Christian.
«Komm mit», sagt er und zieht mich sanft an der Hand. Wir gehen diesmal nicht den Hügel hinauf, nicht zu der Stelle, an der sich das Loch in der Erde befindet, in das meine Mutter hinabgelassen wird, sondern den Hang des Hügels entlang zu einer kleinen weißen Marmorbank, eingerahmt von Espen und daneben ein Rosenstrauch, der eine einzige, vollendete weiße Rose trägt.
Christian sieht diese Rose und lacht sein typisches, halb ersticktes Lachen. Er lässt meine Hand los.
«Hast du nicht erzählt, dass dieser Rosenstrauch niemals blüht?», frage ich und starre auf die Inschrift der Bank. GELIEBTE MUTTER, TREUE SCHWESTER, BESTE FREUNDIN. Auf dem Boden befindet sich eine Platte, die ebenfalls eine Inschrift trägt, ein schlichtes weißes Rechteck mit den
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