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Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gioconda Belli
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dem Grund des Flusses sonderbare Bilder gesehen, die mir aber wirklicher vorkamen als du und ich und das Ganze hier. Ich hatte den Eindruck, dass es an mir liegt, sie zum Leben zu erwecken.«
    »Und was glaubst du, was du dafür tun musst?«
    »Ich muss von meiner Freiheit Gebrauch machen. Ich muss von der Frucht essen.«
    »Und du hast keine Angst?«
    »Elohim möchte, dass ich es tue.«
    »Zu mir hat er genau das Gegenteil gesagt.«
    »Das weiß ich, und ich verstehe es nicht.«
    »Vielleicht fürchtet er sich vor der Freiheit. Die höchste Erfüllung des Schöpfers besteht darin, am Ende von seiner Schöpfung herausgefordert zu werden, aber bei Elohim kann man nie wissen. Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Du kannst dabei sterben. Allerdings gebe ich zu, dass es absurd wäre, wenn er euch vernichtet, nachdem er euch gerade erst erschaffen hat.«
    »Ich werde nicht sterben. Das weiß ich. Er erwartet, dass ich vom Baum esse. Deshalb hat er mir den freien Willen gegeben.«
    »Dann kannst du dich aber genauso dafür entscheiden, es nicht zu tun.«
    »Schon, aber das wäre zu einfach. Außerdem ist es dafür zu spät. Ich brauche das Wissen.«
    »Ich brauche das Wissen«, äffte die Schlange sie nach. »Er hat euch wirklich nach seinem Bilde und ihm gleich gemacht. Er ist es, der alles Wissen hat.«
    »Und der sich zugleich vor dem Wissen fürchtet. Aber ich fürchte mich nicht. Ich habe schon zu viel gesehen. Warum hätte ich all das schauen sollen, wenn nicht, damit ich es verstehe und das Risiko eingehe, es zum Leben zu erwecken?«
    »Vielleicht damit du akzeptierst, dass du nicht alles verstehen kannst.«
     
    Eva blieb in Gedanken versunken. Der Büffel und der Elefant beobachteten sie aufmerksam. Sie waren ihr als Erste nachgegangen, als sie die große Wiese überquert hatte. Im Herzen des Gartens und zu Füßen des Baumes angelangt, hatte sie ein großes Gefolge aus Tieren, die sich ihr scheu und fasziniert zugleich angeschlossen hatten. Sie ließ die Blicke in die Runde schweifen. Sie war nicht sicher, ob sie den Mut aufbringen würde, zu tun, was ihr Gewissen forderte, aber sie spürte, dass sie keine andere Wahl hatte. Der ganze Garten wartete auf sie.
     
    »Ich werde den Baum erst mal anfassen und sehen, ob es stimmt, dass er mir den Tod bringt.«
    »Sieh mich an, ich lehne daran, und es passiert nichts. So leicht kommt man nicht ums Leben.«
    »Ich habe den Tod gesehen, und er hat mir nicht gefallen. Wie es sich wohl anfühlt, zu sterben?«
    »Es fühlt sich nach gar nichts an. Das ist doch das Problem. Dass man überhaupt nie wieder irgendetwas fühlt. Der Tod ist schrecklich einfach«, grinste die Schlange.
     
    Eva beeilte sich. Ihre Hände schwitzten. Die Brust war wie zugeschnürt. Sie streckte den Arm aus. Mit der rechten Hand berührte sie die rauhe Rinde des Baumes. Sie öffnete die Finger. Sie hörte das Echo in ihrem Körper, der von oben bis unten pulsierte, als wollte er seine Hülle sprengen. Sie schloss die Augen. Dann blinzelte sie. Sie stand immer noch an derselben Stelle. Sie lebte. Es war nichts passiert, alles war wie immer. Sie würde nicht sterben, dachte sie. Sie würde vom Baum essen und nicht sterben.
    Gefasst näherte sie sich dem niedrigsten Zweig und pflückte eine dunkle Frucht ab, die sich weich anfühlte. Sie führte sie zum Mund und biss hinein. Die Süße der Feige breitete sich auf ihrer Zunge aus, während der Saft aus dem weichen Fruchtfleisch ihr die Zähne benetzte. Der flüchtig flauschige Geschmack der weißen Blütenblätter, die als ihre Nahrung vom Himmel fielen, war geradezu substanzlos im Vergleich zu dem klebrigen Nektar und dem kräftigen Aroma der verbotenen Frucht. Sie spürte, wie sich deren Duft von oben bis unten in ihr ausbreitete. Die Wonne ihrer Geschmacksknospen fand ein Echo in ihren übrigen Körperzellen. Sie öffnete die Augen einen Spalt und sah die Schlange genauso dastehen wie vorher. Auch die Tiere. Alles war wie immer.
    Naschhaft pflückte sie eine zweite Frucht. Der süße Saft rann ihr übers Kinn. Ihre Begeisterung war vollkommen. Dann warf sie den Tieren nach hier und nach da eine Feige zu, provokativ und glücklich. Die Tiere scharten sich dichter um sie. Eins nach dem anderen näherte sich ihr und leckte ihr den Saft von den Händen. Sie wollte sie alle davon kosten lassen, sie wollte die Entdeckung des neuen Geschmacks mit ihnen teilen, ebenso wie das Empfinden, zum ersten Mal etwas zu tun, das ihr der Körper eingab. Sie war

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