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Unendlichkeit in ihrer Hand

Unendlichkeit in ihrer Hand

Titel: Unendlichkeit in ihrer Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gioconda Belli
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nicht gestorben, sondern fühlte sich lebendiger denn je. Sie sah den Phönix über ihrem Kopf kreisen. Sie rief ihn. Sie hielt ihm die Frucht hin. Der Vogel senkte sich nicht. Er flog weiter. Traurig krächzend entfernte er sich.
     
    Am Stamm des Baumes lehnte die Schlange und beobachtete die Szene, ohne die gewohnte ironische Miene abzulegen und ohne sich der Aufregung anzuschließen, die von Eva und den Tieren Besitz ergriffen hatte.
     
    Adam wusste, was geschehen war, sobald er von weitem den Aufruhr gewahrte. Sein Körper verspannte sich. Er legte einen Schritt zu. Er fürchtete, wieder allein zu bleiben, ohne Begleiterin. Er fürchtete, Elohims Zorn könnte sie vernichten, bevor er bei ihr war. Er begann zu laufen. Während er lief, spürte er, wie eine kalte Leere seine Seite lähmte. Ohne die Frau würde er nie mehr derselbe sein. Sie war Bein aus seinem Bein und Fleisch aus seinem Fleisch, und wenn sie verschwand, dann blieb er unvollständig und würde verzweifelt umherirren. Er hatte fast keine Vergangenheit, und die, die er hatte, war angefüllt mit ihr.
     
    Eva sah ihn kommen. Ein Schauer überlief sie, als sie ihn im Eilschritt auf sie zulaufen sah. Sie nahm seine vom Schweiß glänzende Haut wahr, die kräftigen Beine, den Tritt seiner Füße, seinen alarmierten Blick. Sie kreuzte die Hände über der Brust. Und trat ihm entgegen.
     
    »Ich habe es getan«, sagte sie. »Ich habe es getan, und ich bin nicht gestorben. Ich habe den Tieren Feigen zu essen gegeben, und sie sind auch nicht gestorben. Jetzt bist du dran.«
     
    Sie hielt ihm eine reife Frucht hin. Der Mann hatte den Eindruck, dass sie ihn noch nie auf diese Weise angeschaut hatte. In ihren Augen lag ein Flehen. Er wollte nicht nachdenken. Sie war sein eigen Fleisch und Blut. Es war ihm nicht bestimmt, sie allein zu lassen. Und er wollte auch nicht allein bleiben. Er biss in die Frucht. Er spürte den süßen Saft auf der Zunge und das weiche Fruchtfleisch an den Zähnen. Er schloss die Augen und überließ sich der Wonne dieser Empfindung.
     
    Dann schlug er die Augen auf und sah sie an. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt. Der sanfte Schwung ihrer Taille setzte sich bis zu den herrlich runden Gesäßbacken fort. Er fragte sich, ob sie beim Hineinbeißen wohl genauso süß schmeckten wie die Feige. Er streckte die Hand aus, um die perfekte Kurve zu berühren, und stellte staunend fest, dass ihm die köstliche Seidigkeit ihrer Haut bis dahin entgangen war. Er zog die Hand zurück, aber die Empfindung blieb an seinen Fingern haften und war so intensiv, so präsent, dass ihn ein Schauer überlief.
    Als sie sich umdrehte, streckte er erneut die Hand aus, diesmal nach der Rundung ihrer Brust. Die Frau durchbohrte ihn mit Blicken. Ihre Augen waren weit geöffnet.
     
    Mit einem Mal bemerkten sie den Tumult unter den Tieren. Sie sahen die Elefantenherde im Kreis laufen und die Büffel, die Tiger und die Löwen in alle Richtungen davonrennen. Und sie hörten ein schier endloses Lied aus kehligen Wehlauten, ein einziges unerklärliches Winseln und Heulen.
     
    Adam sah Eva an und fühlte sich zum ersten Mal verloren. Eva wünschte, er würde aufhören, sie so anzuschauen, als wollte er, nachdem er die Frucht gegessen hatte, als Nächstes sie vernaschen. Sie bedeckte ihre Brüste mit den Händen.
     
    »Schau mich nicht an«, bat sie ihn. »Schau mich nicht so an.«
    »Ich kann nichts dafür«, sagte er. »Meine Augen gehorchen mir nicht.«
    »Dann werde ich mich bedecken«, sagte sie und pflückte Blätter vom Feigenbaum.
    »Ich auch«, sagte er, weil er bemerkte, dass auch sie nicht aufhörte, seine Hände und seine Beine anzustarren, als sähe sie diese zum ersten Mal.
     
    Eva hielt Ausschau nach der Kreatur beim Baum der Erkenntnis, konnte sie aber nirgends finden. Da begann sie zu rufen und entdeckte sie schließlich ganz oben in der Baumkrone.
     
    »Was tust du da?«
    »Ich verstecke mich.«
    »Warum versteckst du dich?«
    »Das erfährst du noch früh genug. Bald erfährst du alles, was du wissen wolltest.«
     

    Audio: Die Frucht (02:03)

Kapitel 5
    D er Mann ging mit großen Schritten voraus. Eva beeilte sich, um nicht den Anschluss zu verlieren. Er hatte vorgeschlagen, dass auch sie sich verstecken und abwarten sollten, was jetzt geschah. Ihm war der Schreck anzumerken. Sie dagegen rechnete jeden Augenblick damit, dass sich das Wissen einstellte. Sie wollte ihn dazu überreden, sich auf die Suche nach dem Anderen zu machen, um ihm zu

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