Unendlichkeit in ihrer Hand
Weinen der Zwillinge kaum noch zu vernehmen. Sie schloss die Augen. Hoch am Himmel strahlte die Sonne in den blauen Frühling. Ihr Bewusstsein wurde zu einem schwarzen Knäuel und kullerte in die Stille des Schlafs hinüber.
»Du kannst jetzt nicht schlafen, Eva, wach auf.«
Sie spürte den kalten Schlangenkörper an ihrem Arm. Als es ihr gelungen war, sich aus der Schwere aufzurappeln, in die sie Zuflucht genommen hatte, wischte sie sich überrascht die Augen. Sie sah den eingerollten Schwanz des Tieres auf einem der unteren Zweige und in ihrer unmittelbaren Nähe dessen Kopf in der Luft hängen.
»Musstest du mich wecken?«
»Das Ereignis wollte ich mir nicht entgehen lassen. Schau an, du hast für Elohim einen Mann und eine Frau gemacht.«
»Das hat aber ziemlich weh getan.«
»Ist dir aufgefallen, dass die Tiere auf allen vieren gehen?«
»Du kriechst.«
»Lass mich mal außen vor. Du hast nicht den riesigen Leib einer Stute oder einer Kuh. Du gehst aufrecht. Deshalb kommen die Jungen deiner Gattung klein und hilflos auf die Welt. Du musst ihnen zu essen geben und für sie sorgen, bis sie groß sind.«
»Willst du mir jetzt auch erzählen, dass ich ihnen von dem geben soll, was aus meinen Brüsten kommt?«
»Als er euch aus dem Garten vertrieben hat, hat Elohim den Lauf der Zeit umgedreht. Im Garten hattest du das ewige Leben. Da hättest du niemals Kinder bekommen. Es war nicht nötig, dich fortzupflanzen, weil du ja nicht sterben konntest. Aber jetzt muss die Wirklichkeit neu erschaffen werden. Die Schöpfung muss an den Punkt zurückkehren, wo sie von neuem beginnen kann.«
»Ich verstehe kein Wort.«
»Deine Kinder, Eva, deine Nachkommen werden die Zeit zu ihrem Ursprung zurückführen. Du musst ihnen zu essen geben.«
»Meine Kinder haben Hunger und Durst, aber haben sie denn auch Wissen? Träumen sie? Stellen sie sich was vor?«
»Sie sind dein Abbild.«
»Und wieso hat mich der Wunsch zu wissen verzehrt, wenn es stimmt, was du sagst, und ich vorher ewig und perfekt war? Das gibt keinen Sinn.«
»Du hast einen scharfen Verstand«, versetzte die Schlange ironisch. »Die Ewigkeit braucht kein Wissen. Aber zum Leben und zum Überleben ist Wissen unerlässlich. Man stellt Fragen und muss eine Antwort finden. Ohne Unsicherheit und ohne Angst macht sich niemand auf den Weg. Was muss man schon wissen, wenn man glücklich ist und einem nichts fehlt? Die Fülle ist ganz still. Aber du hattest womöglich eine Sehnsucht.«
»Eine Sehnsucht? Wonach? Ich kannte doch gar kein anderes Leben als das im Paradies. Du warst es, die mir erzählt hat, dass es eine andere Art Leben gibt.«
»Man kann Sehnsucht nach etwas haben, was man nie erlebt hat. Vielleicht hat Elohim dir diese Sehnsucht eingepflanzt, damit du die Frucht isst.«
»Jetzt weiß ich wirklich gar nichts mehr. Jedenfalls verstehe ich nicht, wieso er das gemacht hat.«
»Ich habe dir doch gesagt, er langweilt sich. Stell dir mal vor, wie unterhaltsam es sein kann, ein Geschöpf nach dem eigenen Bilde zu machen, das einem gleich ist. Man nimmt ihm alles, bis auf das Wissen. Dann gibt man ihm eine Welt und wartet ab, was passiert. Man beobachtet, ob und wie es an den Ausgangspunkt der Vollkommenheit zurückkehrt.«
»Und dabei hast du mitgemacht?«
»Einiges, was ich jetzt weiß, habe ich damals nicht gewusst. Das hat er mir dann erklärt, um mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Er hat auch mich bestraft. Er hat mich sogar zu größeren Rückschritten gezwungen als euch. Allein die Tatsache, dass ich krieche. Du wirst von den Generationen nach dir dafür beschuldigt werden, dass es sie gibt. Aber deine Nachkommen werden mit der Zeit immer mehr Wissen erlangen und anfangen, dein Ansehen wiederherzustellen. Niemand wird sich dagegen für eine traurige Schlange einsetzen. Mich werden sie zum leibhaftigen Bösen machen.«
»Das tut mir leid«, sagte Eva.
»Ich dachte, dass Elohim mich bald von dieser lächerlichen Verkleidung erlösen würde, aber offenbar hält sein Zorn noch an.«
»Vielleicht leidet er ja mehr, als wir uns vorstellen.«
»Er weiß zu viel. Wissen und Leiden gehen Hand in Hand. Ich muss los«, sagte sie und glitt am Stamm nach unten. »Du geh jetzt und kümmere dich um deine Kinder. Hör auf deine tierischen Instinkte. Niemand ist besser dazu ausgerüstet als du«, zischelte sie ironisch und entfernte sich im Dickicht.
Auf dem Rückweg zur Höhle hörte Eva die Zwillinge so laut schreien, dass sie dachte, sie
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