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Unendlichkeit

Unendlichkeit

Titel: Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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Dach.
    Er rüttelte Pascale wach; sie kam mit einem kläglichen Wimmern zu sich und weigerte sich Minuten lang, ihre Umgebung und ihre Situation zur Kenntnis zu nehmen. Sylveste studierte die Wärmesignaturen ihres Gesichts und konnte beobachten, wie seine wächserne Starre von einer ausdrucksvollen Mischung aus Reue und Angst verdrängt wurde.
    »Wir müssen weiter«, sagte er. »Sie sind hinter uns her – sie haben die Tunnel vergast.«
    Das Rascheln kam mit jeder Sekunde näher. Pascale schwebte immer noch irgendwo zwischen Traum und Wachen, aber sie öffnete den Mund und fragte mit einer Stimme, als spräche sie durch Watte: »Wohin?«
    »Hier hinein«, sagte Sylveste, packte sie und schob sie auf die nächste ventilähnliche Tunnelöffnung zu. Als sie auf dem glatten Boden ausrutschte, half er ihr beim Aufstehen, dann drängte er sich an ihr vorbei und nahm ihre Hand. Im Tunnel war es so dunkel, dass er auch mit seinen Augen nur wenige Meter weit sehen konnte. Im Grunde war er kaum weniger blind als seine Frau.
    Immerhin besser als gar nichts.
    »Warte«, sagte Pascale. »Hinter uns ist Licht, Dan!«
    Jetzt hörte er auch Stimmen. Hektisches, unverständliches Geschnatter. Steriles Metallklirren. Wahrscheinlich hatten schon Batterien von Chemosensoren ihre Spur aufgenommen, untersuchten Pheromonschnüffler die Luft auf die Ausdünstungen panisch verängstigter Menschen und übermittelten ihre Daten direkt an die Sensorien der Jäger.
    »Schneller«, drängte Pascale. Sylveste warf einen Blick zurück, doch die neue Helligkeit war zu viel für seine Augen. Er sah nur einen zuckenden bläulichen Schein am Tunneleingang, als halte jemand eine Fackel in der Hand. Er wollte das Tempo steigern, aber der Tunnel führte steil nach oben, und sie hatten Mühe, an den glasglatten Wänden Halt zu finden; es war, als wollten sie einen Eiskanal hinaufklettern.
    Keuchende Atemzüge, Metall, das gegen die Wände kratzte, bellende Kommandos.
    Der Anstieg wurde zu steil. Sie hatten ständig zu kämpfen, um nur das Gleichgewicht zu halten und nicht zurückzurutschen. »Bleib hinter mir«, sagte er und wandte sich zu dem blauen Licht um.
    Pascale schob sich hastig an ihm vorbei.
    »Was jetzt?«
    Das Licht schwankte und wurde unmerklich stärker. »Wir haben keine Wahl«, sagte Sylveste. »Wir können ihnen nicht entkommen, Pascale. Wir müssen stehen bleiben und uns stellen.«
    »Das ist Selbstmord.«
    »Vielleicht verschonen sie uns, wenn sie uns ins Gesicht sehen müssen.«
    Eine Hoffnung, dachte er bei sich, die durch viertausend Jahre menschlicher Zivilisation als vergeblich entlarvt sein dürfte, aber was zählte das, wenn es keinen Ausweg mehr gab? Seine Frau legte ihm von hinten die Arme um den Oberkörper, drückte ihre Wange an die seine und schaute in die gleiche Richtung. Sylveste hörte ihre keuchenden Atemzüge und war überzeugt, dass sein Atem nicht viel anders klang.
    Der Feind konnte ihre Angst wahrscheinlich riechen – im wahrsten Sinne des Wortes.
    »Pascale«, begann Sylveste. »Ich muss dir etwas sagen.«
    »Jetzt?«
    »Ja, jetzt.« Er konnte seine Atemzüge nicht mehr von den ihren unterscheiden, spürte jedes Ausatmen wie einen Schlag auf der Haut. »Ich habe es schon zu lange geheim gehalten. Vielleicht bekomme ich keine Chance mehr, es noch jemand anderem zu erzählen.«
    »Du meinst, wir müssen sterben?«
    Er vermied eine direkte Antwort. Mit einem Teil seines Bewusstseins suchte er abzuschätzen, wie viele Sekunden ihnen noch blieben. Vielleicht reichte die Zeit nicht einmal mehr für das, was er zu sagen hatte. »Ich habe gelogen«, begann er. »Damals vor Lascailles Schleier war alles ganz anders.«
    Sie setzte zum Sprechen an.
    »Nein, warte«, sagte Sylveste. »Lass mich ausreden. Ich muss es dir sagen. Ich muss es loswerden.«
    Ihre Stimme war nur ein Flüstern. »Dann sprich.«
    »Die einzelnen Ereignisse haben tatsächlich stattgefunden.« Ihre Augen waren riesengroß geworden; ovale Löcher in der thermografischen Karte ihres Gesichts. »Es war nur genau umgekehrt. Nicht Carine Lefevres Transform begann zu zerfallen, als wir in die Nähe des Schleiers kamen.«
    »Was soll das heißen?«
    »Es war mein Transform. Ich war es, der uns beinahe alle beide in den Tod gerissen hätte.« Er hielt inne und wartete. Auf eine Äußerung von ihr oder dass die Verfolger aus dem blauen Schein hervorbrächen, der langsam immer näher kroch. Als nichts geschah, fuhr er, ganz im Banne seines Geständnisses,

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