Unendlichkeit
bis vier Bilder pro Sekunde verarbeiten konnten. Die Welt bewegte sich so stotternd wie die Bilder, die er als Kind mit Bleistift auf die Ecken von Buchseiten gemalt und durch rasches Blättern zwischen Daumen und Zeigefinger zum Leben erweckt hatte. Alle paar Sekunden verkehrte sich die Tiefenwahrnehmung in verwirrender Weise in ihr Gegenteil, dann erschien Falkender als menschenförmige Nische in der Zellenwand. Manchmal verklemmte sich ein Teil des Blickfelds für zehn Sekunden oder länger und veränderte sich nicht, auch wenn er in einen anderen Teil des Raumes schaute.
Immerhin hatte er sein Sehvermögen oder zumindest dessen schwachsinnigen Vetter wieder.
»Ich danke Ihnen«, sagte Sylveste. »Es ist… eine Verbesserung.«
»Wir müssen uns beeilen«, drängte Falkender. »Wir sind schon fünf Minuten über die Zeit.«
Sylveste nickte, und das genügte, um heftige Migränewellen auszulösen, die allerdings ungleich schwächer waren als die Schmerzen, die er vor Falkenders Eingriff hatte erdulden müssen. Er wälzte sich von der Liege und ging zur Tür. Vielleicht lag es daran, dass er ein Ziel hatte – dass er zum ersten Mal erwartete, durch diese Tür hinauszugehen – jedenfalls kam ihm die Aktion plötzlich so abwegig und sinnlos vor, als würde er sich ohne weiteres in einen Abgrund stürzen. Er war jetzt völlig aus dem Gleichgewicht. Er hatte sich so an seine Blindheit gewöhnt, dass ihn die Wiederkehr des Sehvermögens in tiefe Verwirrung stürzte. Aber das Schwindelgefühl legte sich rasch, als zwei stämmige Vertreter des Wahren Weges eintraten und ihn an den Armen fassten.
Falkender folgte ihm. »Seien Sie vorsichtig. Es könnten Wahrnehmungslücken auftreten…«
Sylveste hörte die Worte, aber sie bedeuteten ihm nichts. Er wusste jetzt, wo er war, und dieses Wissen verdrängte im Moment alles andere. Er war nach mehr als zwanzig Jahren im Exil wieder zu Hause. Sein Gefängnis lag in Mantell, dem Ort, den er seit dem Umsturz nicht wiedergesehen – und selbst in seinen Erinnerungen kaum jemals besucht hatte.
Zehn
Im Anflug auf Delta Pavonis, 2564
Volyova saß allein auf der Brücke – einem riesigen, kugelförmigen Raum – unter der holografischen Projektion des Resurgam-Systems. Wie die leeren Plätze ringsum war auch ihr Sitz an einem langen Teleskoparm mit vielen Gelenken angebracht und ließ sich damit praktisch an jeden Punkt der Kugel steuern. Sie hatte den Kopf in die Hand gestützt und starrte nun schon seit Stunden so fasziniert auf das Hologramm des Sternensystems wie ein Kind auf ein glänzendes Spielzeug.
Delta Pavonis schwebte, eine rötlichwarme Bernsteinperle, in der Mitte. Ihre elf großen Planeten umkreisten sie in maßstabsgetreuen Abständen auf ihren jeweiligen Bahnen; Asteroidenschutt und Kometentrümmer bewegten sich auf eigenen Ellipsen; das ganze System war umgeben von einem zarten Kuiper-Gürtel aus eisigem Strandgut; der Neutronenstern, Pavonis’ schwarzer Zwilling, verschob durch seine enorme Gravitation ein wenig die Symmetrie. Das Hologramm war nicht so sehr eine Vergrößerung dessen, was vor ihnen lag, als eine Simulation. Die Schiffssensoren waren empfindlich genug, um selbst auf diese Entfernung Daten zu erfassen, aber das Bild wäre durch relativistische Effekte verzerrt worden und – schlimmer noch – es wäre ein Schnappschuss des Systems vor mehreren Jahren gewesen. Die relativen Positionen der Planeten hätten keinerlei Ähnlichkeit mit der aktuellen Konstellation gehabt. Da die Anflugstrategie des Schiffes entscheidend darauf beruhte, die größeren Gasriesen des Systems zur Tarnung und zur Schwerkraftbremsung zu nützen, musste Volyova wissen, wo sich die Himmelskörper bei ihrer Ankunft befinden würden, nicht wo sie vor fünf Jahren gewesen waren. Und das war nicht der einzige Grund. Lange bevor das Schiff das Resurgam-System erreichte, schickte es bereits unsichtbare Boten voraus, und auch deren Flug musste optimal auf die Planetenkonstellation abgestimmt werden.
»Kiesel freisetzen«, sagte sie, als sie glaubte, genügend Simulationen durchgespielt zu haben. Folgsam schoss die Unendlichkeit tausend der winzigen Sonden ab. Der Schwarm entfernte sich vom Bug des abbremsenden Schiffes und zog sich langsam auseinander. Volyova sprach einen Befehl in ihr Armband, und vor ihr öffnete sich ein Fenster, das ihr den Blick einer Kamera am Rumpf zeigte. Die ganze Kieselschar verschwand wie von einer unsichtbaren Kraft gezogen in der Ferne. Die
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