Unendlichkeit
traten ein.
Nagorny war, wie die meisten Psychopathen, die Volyova kennen gelernt hatte, stets damit zufrieden gewesen, auf engstem Raum zu leben. Seine Kabine war noch voller als die ihre und von einer so fanatischen Ordnungsliebe gekennzeichnet, als sei hier ein Heinzelmännchen am Werk gewesen. Auf den Regalen waren die meisten von Nagornys Habseligkeiten – viele waren es ohnehin nicht – so gut befestigt, dass sie auch während der Schiffsmanöver, die ihn getötet hatten, an Ort und Stelle geblieben waren.
Sajaki schnitt eine Grimasse und hielt sich den Ärmel vor die Nase. »Dieser Geruch.«
»Das ist Borschtsch. Rote Bete. Nagorny hatte eine Vorliebe dafür, wenn ich mich nicht irre.«
»Erinnern Sie mich daran, sie nicht zu probieren.«
Sajaki schloss die Tür.
Noch hing ein frostiger Hauch im Raum. Den Thermometern nach herrschte Zimmertemperatur, aber die Luftmoleküle schienen noch etwas von der monatelangen Kälte zu bewahren, und die bedrückende Kargheit des Raumes wirkte diesem Eindruck auch nicht entgegen. Verglichen damit war Volyovas Kabine ein Luxusquartier. Das Problem war weniger, dass Nagorny versäumt hätte, seinem Domizil einen persönlichen Anstrich zu geben. Aber er hatte dabei für normale Begriffe so kläglich versagt, dass sich seine Bemühungen ins Gegenteil verkehrt hatten. Der Raum wirkte noch trostloser, als wenn er leer gewesen wäre.
Der Sarg machte die Sache nicht besser.
Das längliche Behältnis war als einziger Gegenstand im Raum nicht fest vertäut gewesen, als sie Nagorny tötete. Es war noch heil, aber Volyova ahnte, dass es einmal aufrecht gestanden und den ganzen Raum mit seiner schrecklich drohenden Würde beherrscht hatte. Der riesige Sarg war vermutlich aus Eisen, jedenfalls war er schwarz wie Ebenholz und schluckte das Licht wie die Außenseite eines Schleierweberverstecks. Alle Oberflächen waren mit Flachreliefs geschmückt, aber die Motive waren zu komplex, um ihre Geheimnisse auf den ersten Blick preiszugeben. Volyova betrachtete sie schweigend. Soll das etwa heißen, dachte sie, Boris Nagorny wäre zu so etwas fähig gewesen?
»Yuuji«, sagte sie. »Das gefällt mir gar nicht.«
»Das kann ich Ihnen nicht verdenken.«
»Was für ein Verrückter baut sich denn seinen eigenen Sarg?«
»Einer, der zu allem entschlossen ist, würde ich sagen. Aber der Sarg ist nun einmal da, und er ist vermutlich unsere einzige Möglichkeit, einen Blick in sein Bewusstsein zu werfen. Was halten Sie von den Verzierungen?«
»Zweifellos eine Projektion seiner Psychose, eine Konkretisierung.« Indem Sajaki sie zwang, Ruhe zu bewahren, drängte er sie in eine unterwürfige Haltung. »Ich sollte die Metaphorik studieren. Vielleicht begreife ich dann mehr.«
Sie hielt inne, dann fügte sie hinzu: »Ich meine, wir sollten den gleichen Fehler nicht zwei Mal machen.«
»Sehr vernünftig«, sagte Sajaki. Er kniete nieder und strich mit dem behandschuhten Zeigefinger über die eingeritzten Schnörkel. »Ein Glück, dass sie nicht auch noch in die Situation kamen, ihn töten zu müssen.«
»Ja«, sagte sie und sah ihn skeptisch an. »Aber was halten Sie denn nun von den Verzierungen, Yuuji-san?«
»Ich wüsste gerne, wen oder was er mit Sonnendieb meint«, sagte er. Nun sah auch sie, dass dieses Wort in kyrillischen Lettern in den Sarg geschnitzt war. »Ist Ihnen der Ausdruck irgendwie bekannt? Was bedeutete er für Nagorny? In Zusammenhang mit seiner Psychose, meine ich.«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Lassen Sie mich trotzdem einmal raten. Ich würde sagen, in Nagornys Phantasie stellte dieser Sonnendieb jemanden dar, mit dem er tagtäglich zu tun hatte, und da bieten sich zwei Möglichkeiten an.«
»Er selbst oder ich«, sagte Volyova. Sie wusste, dass Sajaki nicht so leicht von einer Fährte abzubringen war. »Ja, ja, das liegt auf der Hand… aber es bringt uns keinen Schritt weiter.«
»Sie sind ganz sicher, dass er diesen Sonnendieb nie erwähnt hat?«
»Das hätte ich sicher nicht vergessen.«
Das stimmte sogar. Natürlich erinnerte sie sich: schließlich hatte Nagorny genau dieses Wort mit seinem eigenen Blut an ihre Kabinenwand geschrieben. Es war ihr also durchaus vertraut, auch wenn sie nichts damit anfangen konnte. Vor dem unerfreulichen Ende ihrer beruflichen Beziehung hatte Nagorny kaum noch von etwas anderem gesprochen. Sonnendieb geisterte durch seine Träume und er sah wie alle Paranoiker selbst hinter den alltäglichsten Ärgernissen
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