Unerwünscht: Drei Brüder aus dem Iran erzählen ihre deutsche Geschichte
ich einen verbotenen Bericht gelesen hatte. Mahnaz war etwa in meinem Alter und wegen Ehebruchs zum Tode verurteilt worden. Sie sollte gesteinigt werden. Man steckte sie, bis aufs Gesicht in ein Leichentuch gewickelt, in ein zuvor ausgehobenes Erdloch. Nur Kopf und Schultern blieben frei. Neben dem Exekutionsplatz häufte man Steine auf. Nach dem Gesetz dürften sie nicht allzu groß sein, damit die Verurteilte nicht zu schnell stirbt. Dann las man ihr Suren aus dem Koran vor. Schließlich begann ihre Steinigung. Um ihr Leben flehend, musste Mahnaz ihre Mörder anschauen, während diese sie mit einem Steinhagel überschütteten. Mit jedem Wurf, der von ihrem Aufschrei begleitet wurde, verwandelte sich die Erde um ihren Kopf in eine größer werdende rote Lache. Bald fiel ihr zerschmettertes Haupt zu Boden und die Schreie verstummten. Ihre Henker versetzten Mahnaz mit der Schaufel, mit der sie zuvor das Loch ausgehoben hatten, einen letzten Schlag. Damit stellten sie stets sicher, dass die Hingerichtete tot war.
Wer einmal von Mahnaz’ Schicksal erfahren hat, der kann nicht anders als ihre Mörder zu hassen. Ich wusste, dass Mahnaz nicht die Letzte sein würde. Und dieses Wissen ließ mich nicht zur Ruhe kommen.
Die Wahlen des Madschles , des iranischen Parlaments, nahten, und wir nahmen uns vor, den Menschen deutlich zu machen, dass sie diesen Bluthunden nicht ihre Stimme geben durften. Schwarz auf weiß sollten sie es lesen: Wer die Unterdrückung, wer das Morden stoppen wollte, konnte nicht mit den Mollas gemeinsam handeln – er musste gegen sie handeln.
Am Abend vor der Wahl hatten wir eine Flugblattaktion geplant. Neda und ich sollten sie durchführen. Ich kannte Neda sehr gut, denn sie war eine frühere Schülerin von mir. Damals hatte sie mich aufgesucht, weil sie sich mit ihren Eltern angelegt hatte. Sie hatten sie unter Hausarrest gestellt, nachdem sie gegen ihren Willen allein verreist war. Neda erinnerte mich sehr an meine eigene Jugendzeit. Sie war genauso dickköpfig wie ich und ließ sich nicht von ihren Zielen abbringen. Sie hatte großes Interesse an den aktuellen politischen Entwicklungen gezeigt und viel darüber nachgedacht, was es bedeutet, eine Frau im Iran zu sein. So waren wir ins Gespräch gekommen, und eines Tages nahm ich sie zu unserer Gruppe mit.
Kurz vor der Wahl hing eine ungeheure Anspannung in der Luft. Zwischen den Mollas tobte ein unerbittlicher Machtkampf. Chamenei, der Nachfolger Chomeinis, hatte seine Gegner – alle einst treue Gefolgsmänner des Gründers der Islamischen Republik Iran – zu Feinden des Landes erklärt. Mithilfe der Pasdaran kontrollierte er die ganze Stadt. Sie fuhren scharenweise Patrouillen und durchsuchten jeden, der ihnen über den Weg lief.
Am Abend der Aktion trafen Neda und ich uns in einer Wohnung. Wir versteckten die Flugblätter unter der Kleidung und verhüllten uns in schwarzen Tschadors. Den Schleier zogen wir tief ins Gesicht. Dann verließen wir gesenkten Hauptes das Haus. Wir schritten zielstrebig, aber nicht überhastet und vermieden jeden Blickkontakt.
Es war nicht das erste Mal, dass wir eine solche Aktion durchführten, und wir kannten den Ablauf ganz genau. Neda ging voran. Ich folgte ihr in sicherem Abstand – man sollte nicht merken, dass wir zusammengehörten – und trug einen großen Stoß Papier bei mir. Unser Ziel waren die Wohnkomplexe der Umgebung, in denen man sehr viele Menschen erreichen konnte. Als wir das erste Gebäude erreichten, blieb Neda stehen. Sie schaute sich kurz um. Dann nickte sie mir kaum merklich zu. Nun konnte es losgehen. Sie eilte hinein. Ich positionierte mich vor dem Gebäude und hielt Ausschau nach Pasdaran . Vor mir erstreckte sich ein riesiger Innenhof, der von unzähligen grauen Hochhäusern eingesäumt war. Massive Betonsäulen schulterten ringsum die Wohnklötze.
Plötzlich tauchte eine Truppe junger Revolutionswächter hinter einer Säule auf. Spähend schritten sie in meine Richtung, mit einer Hand am Gurt hielten sie ihre Gewehre fest. Mein Herz begann schneller zu schlagen und instinktiv schaute ich auf den Boden. Mit größter Mühe versuchte ich unauffällig zu bleiben – nicht schneller zu atmen, keine ruckartigen Bewegungen zu machen. Aber mein Körper weigerte sich: Aus allen Poren schoss Angstschweiß und meine Beine begannen, zittrig zu werden. Bald wurden sie so schwach, dass ich befürchtete, zu Boden zu sacken. Die Schritte kamen näher. Mein Herz durchschlug fast meine
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