Unfassbar für uns alle
7. Und Sie wissen doch genau, daß Ihre Schwester sofort herausgefunden hätte, ob das der echte oder der falsche Waldemar ist. Aber ausgerechnet sie ist kurz vor dem Auftauchen Woerzkes verschwunden... Zugleich mit Ihrem Erscheinen in Berlin. Alles hängt mit allem zusammen. Komische Zufalle — oder...?»
«Na sicher!» Instinktiv tat er nun das einzig richtige, um sich wieder etwas Luft zu verschaffen. «Ich hab doch in der Zeitung gelesen, daß Sie den Täter Dienstagabend in Oranienburg festgenommen haben, diesen Viebak...»
«Richtig. Aber heute mittag ist er wieder aus der U-Haft entlassen worden, kein ausreichender Tatverdacht mehr...»
Für Yaiza Teetzmann, Volker Vogeley und mich hatte es drei große Enttäuschungen gegeben. Bei der ersten Gegenüberstellung hatte ihn Fabricio Longare unter den sieben aufgereihten Männern nicht ausmachen können, und in der zweiten Runde war der Schmuckhändler, dem wir die Phantomzeichnung verdankten, ebenso ohne Treffer geblieben. Der dritte Flop war mit dem Stichwort «Dionysos» verbunden. Unter der bei ihm gefundenen Telefonnummer hatte sich nicht der Bordellbetrieb gemeldet, der «Club Dionysos», sondern ein griechisches Restaurant in Wilmersdorf. Außerdem hatte mir Roxana sozusagen an Eides Statt versichert, daß Viebak ihr Etablissement niemals zum Zwecke des Entsaftens betreten hatte.
«...und deshalb müssen Sie sich nun ein anderes Opfer suchen. ..» Ludger Tschupsch stand auf und warf die Dachluke so krachend zu, daß der Dreck aus den Dachsparren auf uns herabrieselte.
«Mord und Totschlag werden nun mal zu rund 95 Prozent aufgeklärt bei uns...»
Wütend riß er einige Kisten vom Regal herunter. «Los, machen wir weiter, vielleicht finden wir doch noch was.»
«Ich danke Ihnen für Ihre Kooperationsbereitschaft.»
«Das tu ich bestimmt nicht Ihretwegen!»
Richtig, denn solange er unter Mordverdacht stand, kam er an das Geld seiner Schwester nicht heran. Und mit dem wollte er sich selbständig machen, wahrscheinlich ein Ingenieurbüro eröffnen.
Der nächste Karton enthielt ihre Briefe, wahrscheinlich alle, die Luise Tschupsch ihr Leben lang erhalten hatte. Kempowski hätte sich gefreut. Ludger Tschupsch begann mit ihrer Sichtung, ich las vieles mit, was die Jahre 1940 - 1950 betraf. Da waren Karten, die ihre Verwandten jubelnd von ihren «Kraft durch Freude »-Reisen geschickt hatten und Feldpostbriefe, Berichte von Luftschutzkellern und Stabbrandbomben, von Flucht, Vertreibung, Vergewaltigung und Tod.
Plötzlich schrie Ludger Tschupsch. «Hier!»
Ich fuhr herum. Er hatte ein größeres Kuvert geöffnet, und was er da in den Händen hielt, war zweifellos ein Liebesbrief. Auf das Blatt war ein großes Herz gemalt und ein Vergißmeinnicht geklebt.
«Von Woerzke an Luise.» Er las die ersten Verse. «Meine Geliebte, meine Luise, es war ein köstliches Gestern; / Worte verklangen im Wort, Küsse verdrängten den Kuß. / Schmerzlich war’s, zu scheiden am Abende, traurig die lange Nacht von gestern auf heut’, die den Getrennten gebot. / Doch der Morgen kehret zurück ...»
Aber nicht der nachempfundene junge Goethe interessierte mich, sondern das, was noch im vergilbten Umschlag gelegen hatte: eine abgeschnittene Locke, ein Büschel blonder Haare.
39. Szene
Schloßhotel Friedrichsheide
Seit 1985, seit Alec Jeffries herausgefunden hat, daß sich mit dem menschlichen Erbmaterial ein individuelles Strichmuster bilden läßt, der (genetische Fingerabdruck), haben wir Kriminalisten eine viel größere Chance, Täter hinter Schloß und Riegel zu bringen. In jedem Tropfen Blut, Speichel oder Sperma, in jedem Haar und jedem Fetzen Haut ist das gesamte Erbmaterial eines Menschen gespeichert, in einem fadenförmigen Molekül fixiert. Das Zauberwort lautet DNA bzw. auf deutsch DNS = Desoxyribonucleinsäure.
Ich hatte eine Locke des frühen Waldemar v. Woerzke, nun brauchte ich nur noch den genetic print des Mannes, der im Schloßhotel Friedrichsheide abgestiegen war, um ihn als «falschen Waldemar» entlarvt zu haben. Nur zwei von 40 Milliarden Menschen wiesen denselben Strichcode auf. Abgesehen von eineiigen Zwillingen. Aber das war ja absolut sicher, daß Woerzke keinen Zwillings- noch sonstigen Bruder gehabt hatte.
Ich streifte also wie ein gerade angekommener Gast, der seine Zimmernummer suchte, durch die langen hohen Flure des ehemaligen Schlosses. Ganz astrein, sprich: legal, war es vielleicht nicht, was ich da durchzuführen gedachte, doch
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