Ungeheuer
Knoten festzogen, stellte er sich vor, wie Blondchen nackt durch den schwarzen Wald hetzte, rannte, stolperte, schniefte und schluchzte. Die Kleine hatte ihm sehr gut gefallen. Zu gut. Vielleicht würde er morgen auf der Rückreise noch einmal bei ihr vorbeischauen, nur so zum Spaß. Ohne konkreten Ablaufplan unternahm er nichts, das war viel zu gefährlich.
Das Objekt war fertig. Doctor Nex legte die Instrumente beiseite und hob die Sezierschale an, um sein Werk aus allen Perspektiven betrachten zu können.
Er hatte zuerst die Brustwarze in der aufgeklappten Gebärmutter festgenäht und das birnenförmige Körperteil dann wieder mit feinen Stichen verschlossen. Das Herz umhüllte das Ganze wie ein festes Futteral. Bis jetzt glich das Objekt einer dieser russischen Puppen, in deren Bauch immer kleinere Ausgaben der äußeren Matrjoschka steckten.
Die ironische Metapher von Fruchtbarkeit und Mutterschaft würde nicht jeder gleich verstehen, schon gar nicht, wenn man das Kunstwerk nur flüchtig und von außen betrachtete, aber es genügte, wenn der Künstler sein Werk vollkommen erfasste.
Ausgereift war es noch nicht, aber dies war schließlich sein erster Versuch, von den zahlreichen Experimenten mit toten Tieren, bei denen ihn schon das Fell schier zur Verzweiflung gebracht hatte, einmal abgesehen.
Vorsichtig drapierte er die unfertige Kreation in der großen Plastikdose und füllte Polyethylenglykol auf. Da konnte das Modell bis zur weiteren Bearbeitung ruhen. Genug für heute.
Er streifte die dünnen Latexhandschuhe ab und ging zur Spüle, um sich die Hände zu waschen und zu desinfizieren. Die normale Spießbürgerküche würde schnell wiederhergestellt sein.
Die Wohnzimmereinrichtung war von der Abenddämmerung rosafarben getüncht. Durch die Fenster drang das Abendzwitschern einer Amsel herein. Meist war er so in seine Studien vertieft, dass in der Zwischenzeit die Nacht heranschleichen konnte. Die Jalousien, die er bei seinen Arbeiten geschlossen hielt, waren sehr dicht, und ohne Uhr wusste man nie, ob es Tag oder Nacht war.
Im Fernsehen lief CSI . Er holte sich einen Rotwein und setzte sich in den Ledersessel.
Auch wenn das Ganze auf deutsche Verhältnisse übertragen ziemlich unglaubwürdig wirkte, war die US-Serie doch lehrreich, denn durch sie konnte man die modernen Methoden der Tatortanalyse kennenlernen; erfahren, wie weit die Möglichkeiten der Spurensicherung inzwischen gediehen waren und worauf ein Täter achten musste. Die Handlung interessierte ihn dabei weniger. Ganz unglaubwürdig wurde es, wenn man sah, was die amerikanischen Ermittler so alles taten: Sie vernahmen Zeugen, arbeiteten im Labor, sprachen mit Verwandten des Opfers, observierten Verdächtige, verfolgten diese, erschossen auch mal den einen oder anderen und gerieten dabei selbst in Gefahr.
Er wälzte einen Schluck Dornfelder im Mund hin und her, schob das linke Bein über die weiche Armlehne, schluckte und lächelte. Im Sessel lümmeln und Wein trinken, das hätte seine Mutter nie geduldet. Bei ihr saß man immer aufrecht. »Drück den Rücken durch, Junge! Du bekommst sonst ein Hohlkreuz! Wer gerade sitzt, zeigt Aufmerksamkeit!« So war das den ganzen Tag gegangen. Spurte er nicht auf der Stelle, krachte es. Reichte die Armlänge, fuhr ihre Handfläche in sein Gesicht und hinterließ einen glühenden Abdruck. Manchmal waren es auch die Fliegenklatsche, ein Handtuch oder ein anderer Gegenstand.
Er hatte sich nicht einmal in der Schule getraut, die Rückenmuskeln zu entspannen. Sie würde es erfahren, und dann gnade ihm Gott! Mit fest zusammengekniffenen Pobacken, die Lendenwirbel durchgedrückt, hatte der Kleine auf seinem harten Stuhl gesessen, Stunde um Stunde, und nach vorn geschaut.
Der Mann ließ auch das rechte Bein über die Lehne hängen und wackelte schelmisch mit den Zehen. »Das hast du nun davon, liebe Helga, dich fressen inzwischen die Maden. Aber
ich – ich sitze hier in ›deinem‹ wunderbaren Haus, trinke Rotwein und genieße das Leben!«
Im Fernsehen betrachtete William Petersen alias Doktor Gilbert Grissom einen aufgespießten Käfer. Insekten konnten viel über Tote aussagen. Im Fall Sandra Gerber war es jedoch egal, wie viele und welche Fliegenmaden und Käfer sich an ihrem weichen Fleisch gelabt hatten. Es gab keinen Verdächtigen und somit auch kein zu überprüfendes Profil. Im Fall seiner Mutter war das schon anders. Er hoffte bloß, dass sie die nagenden Mundwerkzeuge der fetten
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