Ungeheuer
war inzwischen von der gegenüberliegenden Wand zurückgekehrt. Erst jetzt schien sie zu bemerken, dass sie in einem altertümlichen Rollstuhl saß, Arme und Beine an die Streben geklebt. Ihre Augenlider flatterten erneut, dann verdrehte sie den Kopf so weit es ging nach hinten. Grinsend beobachtete er das unnütze Tun. Sie würde außer Umrissen gar nichts erkennen. Nicht dass es etwas ausgemacht hätte, wenn sie sein Gesicht sah, aber so war es spannender. Jetzt wandelte sich ihr Gesichtsausdruck von verwirrt zu verstört. Er liebte es, diese Vorgänge zu beobachten. Zu sehen, wie sich Gefühle in der Mimik widerspiegelten.
»Na los jetzt. Trink!« Sie presste die Lippen aufeinander.
Sein Grinsen wurde breiter. Die Kleine dachte, sie könne mitbestimmen!
»Du willst nicht?« Jetzt schüttelte sie den Kopf. »Von mir aus. Du hattest deine Chance.« Schnell packten die Finger seiner Linken zu und drückten ihre Nasenflügel zusammen, während die Rechte den Ausguss der Tasse abwartend über den Mund hielt. Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann schnappte sie nach Luft, und er goss die Flüssigkeit hinein. Sie verschluckte sich und sprudelte einen Teil des Schlaftrunks wieder heraus, aber das machte nichts. Es war genug, um ein Pferd zu betäuben.
Nachdem die Tasse leer war, strich er ihr die Haarsträhnen aus der feuchten Stirn.
»Und nun schlaf schön! Wir haben heute noch viel vor.« Langsam klappten ihre Augen zu, wie bei der Schlafpuppe, die er als Kind auseinandergenommen hatte.
Die Glühbirne erlosch mit einem feinen Wispern. Er schob das Vorhängeschloss durch den Riegel und drückte es fest. Bis die Nacht kam, waren es noch mindestens drei Stunden. Er würde jetzt nach oben gehen, etwas Leichtes zu Abend essen und seine Utensilien kontrollieren, damit alles nachher reibungslos funktionierte.
»Non mortem timemus, sed cogitationem mortis.« Leise flüsterte er ihr die Worte ins Ohr. Seine Lippen berührten kurz das Ohrläppchen. Es fühlte sich warm und weich an. Ihr rechtes Lid zuckte einmal, aber die Augen blieben geschlossen. Auch wenn sie nicht reagierte, war er sich sicher, dass die gemurmelte Botschaft in ihrem Gehirn angekommen war. Das Gehör schlief nie. Die Frage war bloß, ob sie Latein verstand. Wahrscheinlich eher nicht. Sie hatte auf ihn nicht besonders
gebildet gewirkt. Zur Sicherheit wiederholte er das Ganze auf Deutsch. »Nicht den Tod fürchten wir, sondern die Vorstellung des Todes.«
Irgendeiner der unzähligen römischen Gelehrten hatte den Spruch vom Tod geprägt, und Blondie würde schon bald erfahren, dass er stimmte. Bis jetzt hatte sie sich bestimmt noch keine ernsthaften Gedanken über das Sterben gemacht. Er strich der schlafenden Schönen über den Arm und griff dann nach ihrer Handtasche auf dem Rücksitz. Lau fächelte die Nachtluft staubigen Humusduft zu den geöffneten Fenstern herein, strich mild über die glattrasierten Unterarme des Mannes. Er war froh, dass kein Fichtennadelhauch dabei war. Der Geruch brachte ihn jedes Mal aus dem Konzept.
Der Mann legte den Kopf in den Nacken und lauschte mit angehaltenem Atem eine halbe Minute lang in die Dunkelheit, ehe er die Innenbeleuchtung anknipste. Manchmal waren Forstbeamte oder Jäger in den Wäldern unterwegs, auch nachts. Zur Not konnte er mit der Blonden das Liebespaar geben, seine Geliebte im Halbschlaf, weil sie zu viel getrunken hatte, gerade jetzt, wo sie es sich gemütlich machen wollten – bei dem Wort »gemütlich« würde er dem Jäger verschwörerisch zublinzeln –, war sie eingenickt. Wie schade! Sie würden nach Hause fahren, klar doch, er wusste, dass sie eigentlich in den Wäldern nichts verloren hatten, aber sicher, wir machen uns auf dem Heimweg, Schatz.
»Schatz« würde nichts zu den Worten sagen, während sich ihr Liebhaber anschnallte und davonfuhr. Er würde die benommene Kleine später irgendwo absetzen, an einer unbeobachteten Stelle am Rande der Stadt, und seine Pläne mit ihr aufgeben. Das Risiko, dass sich der Jäger später beim Fund einer Leiche in seinem Revier an das »Liebespaar« erinnerte, war viel zu groß. Sie würde sich ab dem Moment, als der nette
Fremde sie nach dem Weg gefragt hatte, an nichts mehr erinnern. Aber seine ganzen Vorbereitungen, die Logistik, das Beobachten, Suchen, Eingrenzen, wären für dieses Mal vertane Liebesmüh. Umsonst die Vorfreude auf die Hatz und das anschließende Erlegen und Ausweiden des Wildes.
Noch einmal horchte der Mann in die Nacht
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