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Ungeheuer

Ungeheuer

Titel: Ungeheuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Puhlfürst
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wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann befühlte sie ihren Hals. Kein sich zuschnürender Reif, kein Strick. Auch der linke Arm war intakt, nichts zu spüren von herausstechenden Knochen und auch sonst keine Wunden. Es war nicht völlig dunkel, und so konnte sie die vertrauten Umrisse von Kommode und Kleiderschrank sehen. Ihr Wecker zeigte 0:24 Uhr an. Sie hatte noch nicht einmal zwei Stunden geschlafen.
    Lara rutschte zur Seite, setzte sich auf und tastete mit nackten Füßen nach den Pantoffeln. Für einen winzigen Augenblick fühlten ihre Fußsohlen noch einmal spitze Nadeln, Steinchen und stachlige Zapfen statt des vertrauten Teppichs, dann hatten sie die Hausschuhe gefunden und schlüpften hinein. Ohne Licht anzumachen, schlurfte sie zum Fenster.
    Über den Häusern strahlte ein großer, blendender Mond, übergoss Dachfirste, Schindeln, ziegelsteinerne Schornsteine und graue Regenrinnen mit weißem Flimmer. Im Haus schräg gegenüber brannte noch Licht. Freitags gingen die Leute später zu Bett. Lara öffnete das Fenster und ließ die kühle Nachtluft herein. Eine graue Katze, die gemächlich über die buckligen Pflastersteine schnürte, sah kurz zu ihr hoch und schlich dann weiter. Süßer Blütenduft wehte herein und vernebelte die Erinnerung an die Traumbilder.
    Noch einmal kehrte ihr Blick zu den dunklen Flecken auf der strahlenden Mondscheibe zurück, dann drehte sie sich um und tappte in die Küche. Es würde schwierig werden, wieder einzuschlafen. Sie brauchte einen Schlaftrunk. Der Blick schweifte vom Milchkarton zum Weinbrand. Milch – Schnaps – Milch – Schnaps.
    Wie von selbst griff die Rechte nach dem Alkohol. Heiße
Milch war nicht das Richtige, um ihr aufgewühltes Gemüt zu beruhigen. Sie brauchte etwas Stärkeres; ein Mittel, das länger wirkte und traumlosen Schlaf garantierte.
    Lara nahm die Kognakflasche heraus und ging damit zum Fenster. Paralysierend strahlte der Mond. Die weiße Scheibe schien ihr Licht durch die Augen direkt in Laras Hirn zu senden. Ihre Großmutter hatte immer gesagt, je länger man hinaufstarre, umso stärker wirke der Mond. Sie zwang sich, den Blick abzuwenden, und ging, um den Weinbrand in ein Glas zu gießen.
    Großmutter hatte viele Sprüche von sich gegeben. »Du hast es auch« war einer davon.
    »Es« nannte sie die vermaledeite Gabe, dieses plötzliche Aufblitzen von Bildern, die einem Dinge zeigten, die später geschahen. Man musste sie sehen, auch wenn es furchtbare Ereignisse waren, hässliche Sachen, die niemand wahrhaben wollte, schon gar nicht, wenn ein kleines Mädchen sie heraussprudelte. Dazu kam, dass diese Ahnungen eher Gedankensplittern glichen, kurz aufschienen und sofort wieder verblichen. Nie »sah« man konkrete Orte, Zeiten oder alle Beteiligten, und das war der eigentliche Fluch dieser Fähigkeit. Genauso wie das, was du vorhin geträumt hast.
    Lara hob das Glas und betrachtete die braune Flüssigkeit, ehe sie den Inhalt mit einem Ruck hinuntergoss. Der kalte Alkohol brannte erst nach einer halben Minute in der Speiseröhre. Und genau aus diesem Grund bewahrte sie ihn im Kühlschrank auf. Lara mochte keinen Kognak. Es war lediglich Medizin. In ihrem Bauch breitete sich die wohlige Wärme des Hochprozentigen aus, und sie gähnte, ohne die Hand vor den Mund zu halten. Der ganze Quatsch mit der Hellseherei konnte ihr gefälligst gestohlen bleiben. Während sie noch überlegte, ob sie sich ein zweites Glas genehmigen sollte,
hatte ihr Unterbewusstsein schon entschieden, und die rechte Hand drehte am Schraubverschluss.
    Der zweite Schnaps machte ihre Beine schwer. Lara stellte das Glas in die Spüle, die halbvolle Flasche in den Kühlschrank zurück, löschte das Licht in der Küche und zog die Tür halb hinter sich zu.
    Im Schlafzimmer war es warm und dunkel. Wie eine weiche Höhle wartete das Bett. Lara setzte sich, stellte die Pantoffeln so, dass ihre Füße morgen früh gleich hineinschlüpfen konnten, ließ den Hinterkopf aufs Kissen plumpsen und schloss die Augen.
    Bei Vollmond hatte sie oft Albträume, selten so real wie den von vorhin, aber es war eine annehmbare Erklärung. Viele Menschen wurden vom Mond beeinflusst, das war bewiesen. Und jetzt war es wirklich Zeit, wieder tief und fest zu schlafen – ohne Träume. Und wenn ich morgen früh aufwache, habe ich alles vergessen.
    Doctor Nex saß, die Beine angewinkelt, die Knie mit den Armen umfasst, auf dem weichen Boden, versuchte, ruhiger zu atmen, und dachte nach. Das

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