Ungeheuer
Nachrichtenredaktion einen Brief, der mit »D. G. Eine« unterzeichnet war. Wir drucken hier den exakten Wortlaut ab!
Lara schloss die Augen und öffnete sie gleich wieder. Die Halluzinationen waren zurück. Hinter den Scheiben hingen farbenprächtige Läufer und Brücken. Keine Buchstaben. Sie kniff die Augen noch einmal zusammen und schüttelte den Kopf heftig von rechts nach links, als könne sie so die unerwünschten Bilder herausschleudern. Der Text war verschwunden. Vorsichtig, als seien ihre Knochen gebrechlich, tappte Lara los. Sie würde sich jetzt in ein Straßencafé setzen, einen Cappuccino trinken, einen Salat essen und versuchen, Mark zu erreichen.
»Da bin ich wieder!« Lara war in Gedanken noch bei der Falle, die Mark Tom stellen wollte, und erfasste die merkwürdige Szene erst einen Augenblick später. Tom saß vor seinem Computerbildschirm, hinter ihm standen, als besäßen sie keinen
eigenen Arbeitsplatz, Isi, Christin und Hubert, und alle stierten auf seinen Monitor.
»Was ist denn hier los?«
»Da kam grad eine gruselige Nachricht durch den News-Ticker. Schau mal.« Bei dem Wort »gruselig« machte Isabells Stimme einen ungewollten Quietscher, während sie gleichzeitig die Kollegin heranwinkte. Tom hatte den Text auf Anfang gescrollt, und Lara ließ die Augen über die Sätze gleiten: »Das glaube ich nicht.«
»Du hast recht, das Ganze ist unglaublich! Ich denke, der gleiche Text war auch in dem Brief, der heute früh bei uns in der Post war. Nur dass wir ihn weder gelesen noch abgedruckt haben.« Tom klang enttäuscht. »Mit Sicherheit hat der Täter ihn an verschiedene Zeitungen und Agenturen verschickt in der Hoffnung, dass ihn jemand abdrucken würde.«
»Was ja anscheinend auch funktioniert hat.« Lara wandte sich ab und ging zu ihrem Schreibtisch, um sich den genauen Wortlaut noch einmal selbst auf den Schirm zu holen.
LEIDER MUSS ICH MICH HEUTE ERNEUT AN SIE
WENDEN … KUNSTWERK … BRIEF IGNORIERT … KÄMEN
MEINER BITTE NACH … BALD … KÜNSTLER… SCHWER
ZU ERTRAGEN … UNWAHRE BEHAUPTUNGEN … GENIALITÄT
MEINER SCHÖPFUNG … ICH BITTE SIE HIERMIT
NOCH EINMAL EINDRINGLICH, DIESEN SOWIE AUCH
DEN ERSTEN BRIEF SEHR ERNST ZU NEHMEN.
ICH VERZICHTE DARAUF, DIESER NACHRICHT EINE
WEITERE KREATION BEIZUFÜGEN …
ERGEBENST
IHR
D.G. EINE
Sie las den Text dreimal, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass der Täter seinen Brief wieder an »LB« adressiert hatte. Und »LB« war sie, auch wenn er das anscheinend nicht wusste. Lara fröstelte, obwohl es in der Redaktion warm war.
Große Gefahr droht. Du bist in Gefahr. Die innere Stimme wisperte eindringlicher. Nimm dich in Acht! Nimm dich in Acht! Lara drückte beide Handflächen an die Schläfen, schloss die Augen und wiederholte mehrmals, dass alles gut sei. Sie war nicht in Gefahr. Der Irre hatte keine Ahnung, dass sie existierte.
Dann suchte sie in den News nach weiteren Informationen. Die Nachricht von »D. G. Eine« hatte es in den zurückliegenden Stunden bis in die Top Ten geschafft. Lara fingerte ihr Handy aus der Hosentasche und begann, Mark eine SMS zu schreiben. Sie schloss mit den Sätzen: Bin ich in Gefahr? Heute ist wieder Freitag …
Noch bevor sie die heisere Stimme hörte, nahm Lara den Geruch wahr. Beißender Urin, vermischt mit wochenaltem Schweiß, untermalt von Alkohol. Angewidert ließ sie die Hände sinken und schaute hoch. Der Mann in der Tür trug einen Arbeitsanzug, der ehemals blau gewesen sein musste. Jetzt war der Stoff von oben bis unten mit Flecken, die nach getrocknetem Ei, geronnenem Blut und Straßendreck aussahen, beschmiert. Strähnig hingen die Haare unter einer Baseballmütze bis auf die Schultern.
»Heh! Wer iss hier zuständisch?« Mit den Worten verdichtete sich der Gestank. Lara, die in Gedanken noch bei ihrem Artikel für morgen war, schaute kurz zu den leeren Stühlen und verfluchte ihre Kollegen, die schon gegangen waren. »Was wollen Sie denn?«
»Sind Sie zuständisch? Isch hab da was.« Speichelfäden trieften vom Mundwinkel auf die Brust.
»Gehen Sie bitte wieder. Das ist kein öffentliches Büro, Zutritt nur für Redaktionsmitglieder.« An der Nase hatte der Mann einen dicken dunklen Klumpen. Lara schluckte und wandte den Blick ab.
»Nee! Sind Sie allein? Wo iss Ihr Kollege?«
»Welcher Kollege?« Erst als Hubert aus dem Nebenzimmer geschlichen kam und »O Gott! Nicht schon wieder!« ausrief, ratterten die Rädchen in Laras Kopf los, und sie sah einen
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