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Ungeschoren

Ungeschoren

Titel: Ungeschoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Gruppe auf sich zu ziehen. Er weckt deine Neugier, genau wie ich es gerade getan habe.«
    »Das ist wilde Spekulation.«
    »Natürlich«, sagte er und ließ die Mappe los.
    Sie hielt sie fest.

22
     
    Das Schweigen. Wie sie es liebte. Alles, was draußen geschah, brauchte sie nicht zu kümmern. Selbst die Zelle war angenehm. Sie musste wieder zu sich selbst finden – nur das zählte. Im Moment. Bis auf Weiteres. Sich hinauszubegeben in die Umwelt, ohne in sich selbst gefestigt zu sein, das war sinnlos, jede Anstrengung seelenlos. Noch einmal von vorn anzufangen, ohne ein ›vorn‹ zu haben, wo man beginnen konnte – schwer, als dreiundzwanzig Jährige geboren zu werden. Mehrere Versuche, gescheitert. Doch wenn sie eines konnte, dann das, von vorn anfangen, ›from scratch‹.
    Ein Ausdruck, den sie gelernt hatte: from scratch.
    Ihr eigener Ausdruck. Und Schwedisch war es nicht.
    Name, neuer Name. Rosa Beckman hatte sie sich selbst ausgedacht. Rosa – so allgemein, ebenso viel Zigeunerin wie Schwedin, ebenso viel Kurdin wie Jüdin. Rosa Taikon. Rosa Luxemburg. Starke, verständige, bedeutende Frauen. Ein guter Vorname – den sie jetzt vergessen musste.
    Beckman – nach ihrem Lieblingsautor Erik Beckman. Der so mit den schwedischen Wörtern spielte, dass jemand, der sie nicht richtig kannte, lachen musste. Gibt es eine bessere Art zu lernen?
    Aber nein, Rosa Beckman konnte nicht weiterleben.
    Zeit, neu anzufangen, from scratch. Wieder einmal.
    Naska Rezazi war Rosa Beckman, war …
    Tja, was denn? Tot?
    Sie überraschte sich dabei, dass sie an ihre Mutter dachte, ohne Verrat zu denken. Nur Mutter. Ihre Situation. Die doppelten Loyalitäten. Wie hin und her gerissen sie sein musste. Zerrissen. Zerbrochen.
    Nein, denk an den neuen Namen. Einen guten Namen. Kurdische Mädchen werden nach Schönem in der Natur benannt, Jungen nach Eigenschaften. Ihre Lieblingsmädchennamen waren Bahar (Frühling), Ciwan (schön), Gêlas (Kirsche), Hêro (Stockrose), Kajal (Gazelle), Sirwe (Brise), Xunce (Blütenknospe). Und Jungennamen: Aram (ruhig, still), Azad (frei), Dana (weise), Hiwa (Hoffnung), Shemal (leichter Wind), Zana (der Wissende).
    Das kurdische Erbe. Das sie wirklich haben wollte. Ohne die Schattenseiten.
    Und sie fühlte einen Stich von schwedischer Wehmut.
    Sie suchte einen Namen.
    Die Tür wurde geöffnet. Die Außenwelt trat ein. Sie betrachtete sie.
    Polizisten. Vernehmungsleiter. Stell dir vor, wie sie in der Türkei wären. Oder im Iran. Vom Irak ganz zu schweigen.
    Stattdessen diese Frauen. Die etwas Dunklere in Jeans. Aus hartem Holz. Wusste, wie man schwieg, ohne passiv zu sein. Konnte wahrscheinlich ziemlich hart sein, wenn es nötig war. Und dann sie, die Große, Blonde, Kurzgeschorene. Die glatt durch sie hindurchsah. Es war schrecklich und schön zugleich. Sie stellte sich vor, dass die Blonde lesbisch war. Als ob das einen Unterschied machte. Warum hatte sie die Wache gefragt? Weil man zu fragen wagte. Vermutlich nur deshalb. Weil die Worte möglich waren. Die Wache hatte geantwortet, mit einem Lachen, das sie als wirklich herzlich empfand: ›Sara? Neinneinnein, die hat gerade ein Kind bekommen. Mit einem Chilenen, der einen Kopf kleiner ist als sie. Die Wege der Liebe sind unergründlicher als die Wege Gottes.‹
    Wahrscheinlich hatte der Wachmann nicht das Recht, auf die Frage zu antworten. Dennoch tat er es. Und keiner ermordete ihn. Freiheit?
    Sie setzten sich. Sie beobachtete die beiden.
    Der Feind?
    Nein. Überhaupt nicht. Wunderliche Frauen, stark. Frei? Nja. Ja. Doch. So frei es geht.
    Die freiesten Frauen in der Weltgeschichte?
    It’s a man’s world. James Brown. Der es wissen musste.
    Und trotzdem: Wollte sie so sein? Wie sie?
    War es wirklich das?
    Ja.
    Kurz und gut.
    »Also dann«, sagte Sara Svenhagen und betrachtete sie.
    »Wie geht es dir, Naska? Hast du Zeit gehabt, im Lauf der Nacht über die Lage nachzudenken?«
    Im Lauf der Nacht über die Lage, dachte Naska Rezazi, die Rosa Beckman wurde, die …
    »Nennt mich Lera.«
    Sara Svenhagen und Lena Lindberg sahen sich an.
    »Lera?«, stieß Sara hervor. »Das heißt doch Lehm?«
    »Ja, formbar«, sagte Naska Rezazi. »Bis sie in den Brennofen kommt.«
    »Bist du da jetzt? Im Brennofen?«
    »Nein.«
    »Du hast dich also entschieden?«
    »Ja.«
    »Was geschah, … Lera? Was geschah da bei dem Vereinslokal? Es war halb drei in der Nacht. Es war eine helle Sommernacht, fast Mittsommer. Du kamst an. Saß dein Bruder da? Im Hof?«
    Sie

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