Ungeschoren
hatte sie zwanzig Jahre lang in der Garage gelegen. Und jetzt hing sie da in einer ziemlich dunklen Wohnung in Messer-Söder und sah verwundert aus. Verwundert darüber, nicht schon seit Jahrzehnten auf einer Müllhalde zu verrotten.
Und längst zu etwas anderem geworden zu sein.
Paul Hjelm hatte vergessen, Lampen zu kaufen.
Er brauchte eigentlich keine – in wenigen Tagen war die hellste Nacht des Jahres –, doch die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite der Slipgata verdeckten den hellen Abendhimmel. Und alle anderen Himmel auch, was das betraf. Die Wohnung war dunkler, als ihm von seiner ersten Besichtigung her in Erinnerung war.
Er sah sich um. Die Umzugskartons aus Norsborg waren noch nicht ausgepackt. Noch nicht angerührt, genauer gesagt. Er wollte sie nicht anrühren.
Und das Klavier hatte er noch keines Blickes gewürdigt.
Auf einem Bügel an der Garderobentür hing der Armani-Anzug wie ein blutarmer Bürokratenkörper, komplett mit weißem Hemd und gebundenem Schlips. Er selbst trug sein altes Leinenjackett, hinter dessen Anschaffung Jorge Chavez gesteckt hatte, und dachte an alte Zeiten.
Wie der klassische Polizeichef.
Er nahm einen Schluck Whisky. War er wirklich der Richtige, um in einen dieser geschiedenen, deprimierten und leicht alkoholisierten Einzelgängerbullen verwandelt zu werden, die in schwedischen Krimis vorherrschten? Nein, verdammich. Er hatte einen Job zu machen – und sein Job war, Jorge zu schützen. Sonst nichts.
Unruhe erfasste ihn, und die hatte nicht nur mit dem Fall zu tun. Sie ließ ihn eher Ekel empfinden, in erster Linie Ekel vor sich selbst. Was war es, zu dem er sich verwandelte?
Nein, es war eine andere Art von Unruhe. Eine physische Unruhe.
Er wandte sich wieder dem kaffeefleckigen Fax zu. Neben den meisten Namen auf der Liste stand eine Zahl, die die Bandposition auf einem Tonbandgerät angab. Acht Personen, die dem anonymen Anrufer zufolge Jorges Schuld bezeugen konnten. Fünf von ihnen hatte er telefonisch erreicht sowie einen Extrabonus.
Das Resultat konnte durchaus als erfreulich betrachtet werden, wenngleich die Freude nicht ganz ungetrübt war.
Was die Schwere des vermeintlichen Vergehens betraf – organisierter Verkauf von Marihuana, Haschisch, Crack, Ecstasy, Kokain, Heroin, Amphetamin, Rauchheroin, also das ganze Drogenspektrum –, zeigten sich die mutmaßlichen Zeugen erstaunlich verständnislos. Der Jazzclub Majls in Sundsvall galt allgemein als angenehmes Lokal. Kurz und gut.
Also weit entfernt vom ›Umschlagplatz für Rauchheroin in Norrland‹.
Das Problem war: Wenn die Vorwürfe haltlos waren, steckten andere Motive dahinter. Und die schienen nicht ganz lupenrein zu sein. Wenn nicht direkt widerlich.
Die Liste mit acht Namen enthielt drei Polizeibeamte, Chavez’ früheren Chef bei der Kripo in Sundsvall, Emil Mårdström sowie die Kollegen Bengt Eriksson und Rickard Blomdahl. Dazu zwei Musikerkollegen, Stig Nilsson und Rocke Rööf, und einen Mitinhaber des Majls, Micke Furberg. Die beiden letzten Namen auf der Liste waren weiblich: eine Unbekannte namens Eva-Liza Besch sowie die Sekretärin Ann-Charlotte Stefansson von der Sozialbehörde in Sundsvall. Mit fünf der mutmaßlichen Zeugen hatte Paul gesprochen: Mårdström, Eriksson, Nilsson, Rööf und Stefansson. Blomdahl, mittlerweile Kommissar bei der Interpol-Einheit der Reichskriminalpolizei, war überhaupt nicht zu sprechen. Und weder Eva-Liza Besch, deren Identität unklar blieb, noch Furberg, der jetzt einen Rockclub in Eskilstuna betrieb, waren zu erreichen. Mårdström und Stefansson hatten noch ihre Posten in Sundsvall inne, Eriksson arbeitete für eine private Sicherheitsfirma in Enköping, und die in Stockholm ansässigen Nilsson und Rööf schlugen sich, ihren eigenen Angaben zufolge, weiterhin ›als Musiker durch‹.
Er zog das kleine Tonbandgerät heran und spulte vor auf Position 876.
»Rööf«, sagte eine heisere Stimme.
»Heißen Sie wirklich so?«
»Ich rocke Ihnen den Arsch ab, yes. Rocke Rööf speaking.«
Hjelm konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Er spulte ein Stück vor.
»Drogen?«, sagte Rocke Rööf. »Ich streite alles ab.«
»Sie haben nie gehört, dass im Majls Drogen gehandelt wurden?«
»Nie. Ich streite alles ab.«
»Okay. Wissen Sie, wer der Besitzer des Majls war?«
»Besitzer?«, sagte Rocke Rööf. »Nein, weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob überhaupt jemand das Majls besessen hat. Es waren mehrere, die es betrieben. Also Micke
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