Ungezaehmte Leidenschaft
Finsternis auf dem Friedhof warf Wolf keinen Blick in den Spiegel, und er wusste auch, warum.
»Vorsicht, wenn du das Ding benutzt«, hatte Newton ihn gewarnt. »Es reagiert empfindlich auf psychische Energie. Am besten, man sieht erst gar nicht hinein. Wenn es unumgänglich ist, dann nur mit heruntergefahrener Sinneskraft. Es bedarf eines starken Talents, den Quecksilberspiegel zu beherrschen.«
Wolfs Neugierde hatte die Oberhand gewonnen. Er hatte den Spiegel aus dem schwarzen Samtbeutel genommen und mit leicht gesteigertem Talent hineingeblickt. Die Erinnerung an die starke Energie, die vorübergehend seine Sinne geblendet hatte, ließ ihn schaudern. Er wollte gar nicht daran denken, was hätte passieren können, wenn der Kunde ihm nicht zu Hilfe gekommen wäre.
»Idiot«, hatte Newton ausgerufen und Wolf den Spiegel entrissen. »Ich habe dich gewarnt. Zu viel dieser Energie, und deine Sinne werden auf Dauer geschädigt. Der Spiegel soll Sweetwater blenden, damit er sein Talent nicht gegen dich richten kann. Sobald Sweetwater erledigt ist, gibst du ihn mir zurück.«
Von da an hatte Wolf vorsichtiger agiert. Aber falls der Quecksilberspiegel wie versprochen seinen Dienst leistete, hatte er nicht die Absicht, ihn Newton zurückzugeben. Das Stück würde ihm in Zukunft Vorteile seinen Rivalen gegenüber verschaffen. In der Londoner Unterwelt herrschte ein harter Konkurrenzkampf.
30
Owen spürte, wie Virginia sich in seinen Armen rührte. Vorsichtig löste sie sich von ihm. Sofort wurde es im Raum kälter. Widerstrebend öffnete er die Augen und blickte zu ihr auf.
»Es ist schon spät«, flüsterte sie.
»Ich weiß.«
Auf einen Ellbogen gestützt, sah er zu, wie sie aufstand. Ihr Haar war zerrauft. Ihre Strümpfe waren den Strumpfbändern entglitten und ringelten sich um ihre Fesseln, das Oberteil ihres Hemdes lag zerdrückt um ihre Mitte. Gesicht und Brüste waren noch gerötet. Seine Sinne regten sich erneut.
»Du siehst köstlich aus«, sagte er. »Zum Anbeißen. Ich glaube, ich bekomme wieder Appetit.«
»In der Küche sind sicher noch ein paar Muffins«, sagte sie ganz ernst und zog ihr Hemd hoch. »Falls deine Neffen nicht alle gegessen haben.«
Er lächelte und stand auf. »Ich hatte eine andere Leckerei im Sinn. Aber es ist wirklich schon spät. Du brauchst deinen Schlaf.«
Sie blickte auf die Uhr, die in der Zimmerecke stand. »Guter Gott, fast zwei Uhr morgens. Deine Neffen werden sich schon wundern.«
Er ließ sich Zeit, sein Hemd zuzuknöpfen. »Falls einer Fragen stellt, was ich sehr bezweifle, werde ich sagen, dass wir den Fall besprochen haben.«
»Ich fürchte mich, Mrs. Crofton am Morgen unter die Augen zu treten.« Virginia bückte sich, um ihre Strümpfe auszuziehen. »Wenn ich Glück habe, bekomme ich noch ein Frühstück, ehe sie kündigt. Sie war zwar bemerkenswert tolerant, was die exzentrischen Gepflogenheiten dieses Haushalts betrifft, aber Leibwächter sind zu viel für sie.«
Er griff nach seiner Hose. »Virginia, die eigene Haushälterin sollte man nicht fürchten. Das ist nicht ratsam.«
»Ich fürchte sie nicht.« Virginia trat in die Mitte des Stoffhügels, den ihr Kleid bildete, und zog es hoch. »Na ja, vielleicht nur in gewissem Sinn.«
»Warum?«
»Begreifst du nicht? Nein, wahrscheinlich nicht.« Virginia steckte die Arme in die Ärmel des Kleides und konzentrierte sich intensiv auf die Häkchen ihres Oberteils. »Wenn Mrs. Crofton zur Billings Agency geht und eine andere Stellung sucht, wird sie natürlich Mrs. Billings von den seltsamen Vorgängen hier unterrichten. Mrs. Billings legt großen Wert darauf, ihre Leute in anständigeHäuser zu schicken. Nach allem, was hier in letzter Zeit passierte, steht zu befürchten, dass ich nicht mehr in diese Kategorie falle.«
Owen überlegte, während er die Messerscheide an seiner Fessel befestigte und dann seine Hose zuknöpfte. Er schloss seine Weste mit raschen, geübten Bewegungen und zog seine Stiefel an. Als er fertig war, ging er auf Virginia zu und blieb vor ihr stehen.
»Ist Wohlanständigkeit dir so wichtig?«, fragte er.
Sie reckte ihr Kinn. »Mein Vater war ein Gentleman, der seine Geliebte, eine Spiegel-Deuterin, versteckt hielt. Mein Leben lang war ich mit dem Makel der Illegitimität behaftet. Ich bin mit dem Talent belastet, die grausigsten Nachbilder in Spiegeln zu sehen. Das ist nicht eben eine elegante oder damenhafte Tätigkeit. Ich verdiene mein Geld auf eine Weise, die Arcane, jene
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