Ungezaehmte Leidenschaft
in den Tiefen des Spiegels knisternde Kaskaden. Ihre Sinne sangen als Reaktion auf die wilde Energie und drängten sie, die Kräfte im Spiegel zu entfesseln.
Da wusste sie mit der Intuition der Spiegel-Deuterin, dass jedes starke Talent den Spiegel benutzen konnte, um jemanden zu blenden oder zu töten. Für einen Menschen mit psychischen Fähigkeiten war das Artefakt wie eine Schusswaffe einsetzbar. Aber jemand mit einem ganz speziellen Talent konnte mit dem Gerät noch viel mehr anfangen. Er konnte die im Spiegel eingeschlossene Energie freisetzen.
Jemand mit ihrem Talent.
Aber was kann man mit der seltsamen Energie, die im Spiegel brannte, anfangen?
Virginia dachte an die schwache Energie, die der Mörder in die Spiegel auf den Frisiertischen Mrs. Ratfords und Mrs. Hacketts und an den Wänden der Schreckenskammer unter dem Haus der Hollisters eingeschleust hatte. Wieder tauchte eine Frage auf. Warum versuchte jemand, Kraft in einem Spiegel zu speichern?
Aus dem Nichts fiel ihr etwas ein, was ihre Mutter vor langer Zeit gesagt hatte: Kraft bleibt Kraft, ob normal oder paranormal. Immer ist sie potenziell gefährlich, und immer wird es Menschen geben, die sie für ihre eigenen Zwecke manipulieren.
»Virginia.«
Owen sprach im Schlaf. Er rief ihren Namen so rau und heiser, dass der Bann des Spiegels gebrochen wurde.
Sie fuhr ihre Sinne herunter. Der Spiegel verdunkelte sich zu stumpfem Grau. Mit zitternden Fingern steckte sie ihn in den Beutel zurück und zog die Schnur zu. Sie legte den Beutel auf die Kommode und trat an Owens Bett. Als sie seine Hand ergriff, schlossen sich seine Finger fest um sie, ohne dass er erwachte.
Virginia sah durchs Fenster hinaus in die mondhelle Nacht, in Gedanken immer noch bei den Bildern, die sie im Quecksilberspiegel gesehen hatte.
34
Gegen Morgen spürte Virginia die kleine, aber deutliche Veränderung, die ihr verriet, dass Owen aus den Tiefen der Bewusstlosigkeit aufgetaucht war. Sein Atem war ruhig, sein Puls stetig. Er schlief noch immer, nun aber schien sein Schlaf völlig normal.
Sie ließ seine Hand los.
»Virginia«, murmelte er. Seine Augen blieben geschlossen.
»Ich bin da«, sagte sie leise. »Alles ist gut. Schlaf weiter.«
Er rührte sich, drehte sich auf die Seite und befolgte ihren Rat. Nach einer Weile stahl sie sich hinaus und ging den Gang entlang, an dessen Ende Charlotte in einem Zimmer schlief. Sie glaubte, Mrs. Crofton unten in der Küche hantieren zu hören.
Am Fuß der Treppe angelangt, hörte sie Matts Stimme leise aus der Finsternis dringen. »Geht es Onkel Owen gut, Miss Dean?«
»Es geht ihm gut, er schläft. Wo sind Tony und Nick?«
»Tony behält die Rückseite des Hauses im Auge. Onkel Nick schläft im Salon. Mrs. Crofton ist in der Küche. Sie kam vor ein paar Minuten hinunter. Sie wollte rechtzeitig mit den Vorbereitungen für das Frühstück beginnen, da Sie so viele Gäste haben heute Morgen.«
Virginia zuckte zusammen. »Das ist sehr anständig von ihr, für alle ein Frühstück zu machen, ehe sie kündigt.«
»Von einer Kündigung hat sie nichts gesagt. Sind Sie noch immer sicher, dass Onkel Owen nach dem Erwachen wieder all seine Sinne einsetzen kann?«
»Ganz sicher.«
»Das ist eine gute Nachricht«, sagte Matt. »Wäre es anders gekommen, hätten wir es schwer mit ihm gehabt.«
Matts offensichtliche Erleichterung ließ Virginia innehalten. »Ich verstehe Ihre Besorgnis wegen eines möglichen Verlusts seines Talents. Es wäre für jeden stark Sensitiven sehr verstörend, aufzuwachen und entdecken zu müssen, dass seine Parasinne blind sind. Aber was meinen Sie, wenn Sie sagen, Sie hätten es in diesem Fall mit ihm schwer?«
»Matt, du hast schon genug gesagt«, hörten sie Nicks Stimme aus der Tür zum Salon.
»Ja, Sir«, sagte Matt rasch. »Tut mir leid. Ich vergesse immerzu, dass Miss Dean noch nicht zur Familie gehört.«
Virginia war klar, dass sie im Moment nicht mehr aus Owens Neffen herausbekommen würde. Sie drehte sich zu Nick um. »Guten Morgen, Sir.«
»Guten Morgen«, sagte Nick und rieb sein Kinn. »Ich nehme an, oben ist alles in Ordnung?«
»Ja«, sagte Virginia.
»Danke.« Nick ließ seine Hand sinken und sah sie mit eindringlicher Miene an. »Die Sweetwaters stehen in Ihrer Schuld. Wir begleichen unsere Schulden immer.«
»Das ist lächerlich«, sagte sie schon ungeduldig. »Niemand ist mir etwas schuldig. Zum letzten Mal: Mr. Sweetwater wäre auch allein wieder auf die Beine
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