Ungezaehmte Nacht
die aber trotz ihrer Entschlossenheit, Ruhe zu bewahren, zitterte. »Wenn dir etwas an unser aller Leben liegt, beweg dich ganz langsam, bis du den Raum durchquert hast! Ich werde den Löwen ablenken, und du gehst zu dem anderen Ausgang. Sobald du draußen bist, renn, so schnell du kannst!«
Sarina streckte die Hand aus, als könnte sie Isabella noch zurückziehen, doch Betto ergriff ihre zitternden Finger und drückte sie ermutigend. Keiner der anderen Diener rührte sich, keiner gab auch nur einen Laut von sich, keiner schien zu atmen.
Isabella wandte nicht den Kopf, um zu sehen, ob Sarina ihre Anweisungen befolgte; sie musste einfach daran glauben, dass die Wirtschafterin den Mut dazu aufbringen würde. Isabella wagte nicht, den Blickkontakt mit dem Löwen zu unterbrechen. Das mächtige Tier zitterte vor Gier, sich auf sie zu stürzen, sie zu zerfleischen, seine Zähne tief in ihr Fleisch zu treiben und das befriedigende Knacken von Knochen zu hören. Es war nur Isabellas konzentrierter Blick, der die Raubkatze noch davon abhielt anzugreifen.
Der Drang des Löwen zu töten war so stark, dass Isabella ihn tief in ihrem eigenen Herzen spüren konnte. Aber auch der Konflikt in dem Tier war groß, und sie fühlte Mitleid mit ihm, aber nur für einen winzigen Moment, denn die panische Angst, die in ihr aufstieg, überwog alle anderen Empfindungen. Trotz allem jedoch weigerte sie sich, auch nur zu blinzeln oder sich gar abzuwenden. Die Raubkatze war verwirrt und kämpfte mit sich; die dunkle Macht appellierte schier unablässig an ihre Instinkte und bedrängte sie, Isabella und alle anderen zu töten.
Wieder durchlief ein furchtbares Zittern den mächtigen Körper, und der Löwe kroch flach auf dem Bauch auf Isabella zu und fixierte sie mit starren Augen. Dicke Muskelstränge zeichneten sich unter dem Fell ab, und aus dem riesigen Maul tropfte Speichel, als das Tier sie anfauchte, warnend, bittend und herausfordernd zugleich. Der Atem des Löwen strich heiß über ihren Körper, doch sie bewegte keinen Muskel.
Hinter ihr regten sich die Bediensteten in ihrer Panik und waren kurz davor hinauszustürmen, aber Betto hielt sie mit erhobener Hand und einem Kopfschütteln zurück. Jede plötzliche Bewegung oder ein Geräusch konnten den Löwen dazu bringen anzugreifen.
Isabella fühlte kleine Schweißperlen durch die Mulde zwischen ihren Brüsten rinnen. Das Herz dröhnte ihr in den Ohren, sie hatte den unangenehmen Geschmack von Furcht im Mund, und ihre Knie drohten nachzugeben, doch sie ließ sich nicht beirren, als sie, fest entschlossen, nicht zu fliehen, in die glühenden runden Augen starrte. Ihr Mund war so trocken, dass sie nicht sicher war, ob sie sprechen könnte, falls es nötig war. Das Tier war so riesig und ihr so nahe, dass sie die unterschiedlichen Farbtöne in seinem Fell sehen konnte, Silber, Schwarz und Braun, die so dicht miteinander verwoben waren, dass es wie ein seidiges Schwarz erschien. Isabella konnte Wimpern ausmachen, Schnurrhaare und zwei tiefe Narben in der mächtigen Schnauze.
»Ich bin bei dir, Isabella. Hab keine Angst.« Die Stimme war weich und zärtlich, und dann trat Nicolai langsam und vorsichtig an Isabellas Seite. Seine Hand schloss sich um ihre und stellte eine körperliche Verbindung zwischen ihnen her. Isabella wagte nicht, den Blick von dem Löwen abzuwenden, doch sie wusste auch so, dass Nicolai das Tier genauso scharf beobachtete, dass seine Augen vor Zorn loderten und er sich darauf konzentrierte, die Bestie in Schach zu halten. Sie konnte es nahezu spüren, wie er dem Löwen langsam, aber unerbittlich seinen Willen aufzuzwingen begann.
Isabella kämpfte neben ihm, weil sie den Kampf verstand wie kein anderer im Raum. Sie begriff jetzt, welch ungeheure Konzentration und Willenskraft es von Nicolai erforderte, mit einem wilden Tier zu kommunizieren und das Unbezähmbare zu bezwingen. Die Löwen waren nicht zahm oder abgerichtet, keine Schoßhündchen, sondern wilde Tiere, die Beute erlegen und fernab von menschlicher Gesellschaft leben sollten. Um sie davon abzuhalten, ihren natürlichen Instinkten zu folgen, musste Nicolai ständig eine ungeheure Energie aufwenden. In gewisser Weise war er ein Teil von ihnen und an sie gebunden, und die Löwen sahen in ihm das Leittier ihres Rudels.
Der Löwe wollte gehorchen. Der innere Kampf, den er mit sich ausfocht, war ihm deutlich anzusehen. Isabella fuhr fort, ihm in die Augen zu schauen, und ihre mitfühlende Natur versuchte,
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