Unheil
zu töten?
Sie erschrak vor ihrem eigenen Gedanken, starrte ihn trotzig an und
lieà das Messer fallen. Sie bereute es im nächsten Moment.
»Wie du willst«, sagte Aisler. »Schnappt sie
euch!«
Alles geschah gleichzeitig. Conny warf sich zur Seite und fiel
gleichzeitig auf die Knie, um das Messer wieder aufzuheben, und Frank und der
andere Junge sprangen in einer vollkommen synchronen Bewegung vor, um Aislers
Befehl nachzukommen und sie festzuhalten. Sie hatte keine Chance. Ihre eigenen
Bewegungen kamen ihr mit einem Male grotesk langsam vor, wie eine grausame
Parodie auf sich selbst, während sich die beiden Jungen ungeheuer schnell
bewegten, kaum mehr als Nebelschwaden, die einfach zu verschwinden und im
nächsten Sekundenbruchteil neben ihr wieder aufzutauchen schienen.
Keiner von ihnen erreichte sie, denn plötzlich fiel etwas Riesiges
lautlos von der Decke, stieà Aisler zurück und breitete aus der gleichen
Bewegung heraus die gewaltigen Schwingen aus. Die beiden Jungen wurden von den
FüÃen gefegt und verschwanden schreiend in der Dunkelheit. Eine der beiden
Lampen prallte gegen die Wand und zerbrach klirrend, die andere fiel zu Boden
und rollte davon, ein kaleidoskopisches Chaos aus Licht und Schatten hinter
sich herschleppend. Der Schatten richtete sich zu seiner ganzen gewaltigen
GröÃe auf, faltete die Schwingen zusammen und drehte sich endgültig zu Aisler
herum, während Conny die Hand um den Messergriff schloss. Das alles geschah in
einer einzigen Sekunde.
In der zweiten gerann der Schatten zu einer schlanken Gestalt mit
schwarzem Haar, in das eine blitzförmige blonde Strähne hineingefärbt war. Er
trug eine altertümliche schwarze Pelerine mit Rüschenkragen, darunter einen
ebenso altmodischen Frack und einen schlanken Gehstock mit einem Griff in der
Form eines silbernen Drachenkopfes, den er in einer eleganten Bewegung
herauszog und damit die schlanke Klinge eines Stockdegens offenbarte, der darin
verborgen war.
 »Hol die Mädchen!«, sagte
Vlad scharf. »Schnell!«
Conny kam irgendwie auf die FüÃe und torkelte los, sah aber trotzdem
aus den Augenwinkeln noch, wie sich Aisler wieder hochrappelte und seine
stählerne Klaue schwang, um sich auf Vlad zu stürzen. Jemand schrie. In dem
schmalen Durchgang schien sich nichts verändert zu haben. Tess hockte mit an
den Leib gezogenen Knien am Boden und starrte aus leeren Augen ins Nichts, und
Mirjam lehnte mit schmerzverzerrtem Gesicht an der Wand und hatte den
verletzten Arm gegen den Leib gepresst. Ihre Hand hatte wieder zu bluten
begonnen, wenn auch nicht mehr ganz so heftig wie zuvor. Dennoch lief ein
beständiges rotes Rinnsal an der Seite ihres schwarzen Mantels hinab und hatte
bereits eine glitzernde Lache zu ihren FüÃen gebildet, von der ein
durchdringender Kupfergeruch aufstieg.
Conny warf ihr einen fragenden Blick zu, den sie mit einem ebenso
kraftlosen wie tapferen Nicken beantwortete, bevor sie neben Tess in die Hocke
ging und die Hand unter ihr Kinn legte. Tessâ Haut fühlte sich kalt und glatt
wie gefrorenes Kerzenwachs an.
»Ist alles in Ordnung?« Die Frage kam ihr selbst lächerlich vor,
aber es ging ihr auch nur darum, die Barriere zu durchbrechen, die Tess
zwischen sich und dem Rest der Welt errichtet hatte.
Es gelang ihr nicht. Tessâ Augen blieben leer. Vielleicht würde sie nie
wieder in die wirkliche Welt zurückfinden. Und vielleicht, dachte Conny
schaudernd, hätte sie die falsche Wahl getroffen, hätte Aisler sie gezwungen,
sich zu entscheiden.
Conny zog das Mädchen auf die Beine, drehte sich zu Mirjam um und
streckte den anderen Arm aus, um sich den Mirjams wie vorhin um die Schulter zu
legen und sie zu stützen, aber das Mädchen schüttelte nur den Kopf und stieÃ
sich mit zusammengebissenen Zähnen von der Wand ab. Sie schwankte bedrohlich,
nahm jedoch irgendwoher die Kraft, nicht nur aufrecht zu stehen, sondern auch
einen zweiten Schritt zu tun. Conny hatte selten etwas Tapfereres gesehen.
Aber vielleicht auch kaum etwas Sinnloseres.
Es gab nichts, wohin sie gehen konnten. Die beiden anderen Türen,
die es auÃer der zum Liftschacht noch gab, waren verschlossen. Conny hätte vor
Enttäuschung und Frustration am liebsten aufgeschrien.
»Wir müssen zurück!«, stieà sie hervor, zwar an Tess und Mirjam
gewandt, sich jedoch zugleich schmerzhaft des Umstandes bewusst, dass nur
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