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Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers

Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers

Titel: Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Wilfling
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Tod des Vaters nie mehr betreten hatte.
    Das Zimmer war noch genauso eingerichtet wie in all den schlimmen Jahren – und wie sie es hinterlassen hatte, als der Vater gestorben war. Diesmal aber folgte ihr die Mutter in die »verbotene Zone«.
    »Verschwinde, hau ab, ich will dich hier nicht haben!«, geiferte sie, als beide neben dem Bett standen, auf dem noch immer der Bademantel des Vaters lag.
    »Du hast doch immer gewusst, was Papa hier mit mir gemacht hat, oder? Warum hast du mir nie geholfen?«, schrie Klara ihre Mutter verzweifelt an.
    Dann fiel jener Satz, den die Mutter besser nicht ausgesprochen hätte. »Du wirst es schon gebraucht haben«, keifte sie laut und kreischend.
    Wie in Trance ergriff Klara den Bademantel, zog den Gürtel heraus und schlang ihn der Mutter um den Hals. Diese fiel rücklings auf das Bett und lag genau an der Stelle, an der Klara immer gelegen hatte, wenn sich ihr Vater an ihr verging.
    Klara zog mit aller Kraft zu und schaute ihrer Mutter dabei ins Gesicht. Ob sie wahrnahm, wie das Leben entwich, vermochte sie später nicht mehr zu sagen, und auch nicht, wie lange sie die Schlinge zugezogen hielt, bis sie registrierte, dass die Mutter tot war.
    N ur ein einziges Mal sonst in 42 Jahren Polizeidienst hatte ich es mit einem Menschen wie Klara zu tun. Nie zuvor und auch nie mehr danach erlebte ich eine so ehrliche, schonungslose und reumütige Aussage wie von dieser jungen Frau. Es war kein Geständnis, eher ein Hilfeschrei, ein Sich-etwas-von-der-Seele-Reden. Insofern war es eigentlich auch keine Vernehmung im Sinne von Frage und Antwort, weil kaum Fragen erforderlich waren. Sie ließ nichts aus, das sie bewegte, auch nicht vermeintliches Fehlverhalten. Es war eine einzige Selbstanklage. Die junge Frau fühlte sich schuldig – davon konnte sie selbst unser Mitgefühl und unser Verständnis nicht abbringen.
    Eine ganze Nacht lang schilderte Klara mir und einer Kollegin ihren Leidensweg in allen Einzelheiten und teilweise so detailliert, dass insbesondere ich mich als Mann extrem schämte. Andererseits merkten wir, dass es ihr ein großes Bedürfnis war, endlich reden zu dürfen, endlich jemanden gefunden zu haben, der ihr nicht nur zuhörte, sondern sichtlich Anteil nahm.
    Als wir sie schließlich in den frühen Morgenstunden durch die menschenleeren Gänge des Münch ner Polizeipräsidiums zur Haftanstalt brachten, geschah etwas, das ich nie mehr in meinem Leben vergessen werde, so hat es mich berührt. Immer wieder blieb Klara stehen, schaute hinauf zum Deckengewölbe und rief:
    »Mama, Mama, bitte verzeih mir!«
    Dabei weinte sie derart hemmungslos, dass die Kollegin ihren Arm um sie legte und sie behutsam weiterführte.
    Mir selbst gingen dabei viele Gedanken durch den Kopf. Ich empfand aufrichtiges Mitleid mit dieser Täterin, die ihre Mutter getötet hatte. Die mir oft gestellte Frage, ob man Mörder oder Totschläger auch mögen kann, war in Klaras Fall leicht zu beantworten: Ja, man kann. Gerade durch diese Geschichte wurde mir wieder einmal so richtig bewusst, dass Mord nicht gleich Mord ist. Auch wenn das Gesetz eine einheitliche Bestrafung – lebenslänglich – vorschreibt. Aber es gibt Milderungsgründe, und unsere Gerichte wissen diese Unterschiede manchmal zu berücksichtigen.
    Klara stand fünf Monate später vor dem Schwurgericht. Wenn ich glaubte, vor aller Öffentlichkeit würde sie sicherlich Hemmungen haben, derart ins Detail zu gehen wie in der Tatnacht, sah ich mich getäuscht. Auch hier sagte sie völlig offen und schonungslos aus, sodass die meisten Zuhörerinnen und Zuhörer im voll besetzten Schwurgerichtssaal Tränen in den Augen hatten. Sie schilderte sogar ihre Schuldgefühle, die sie wegen der gelegentlich verspürten Lust hatte. Mehr Ehrlichkeit war unmöglich. Kein einziges Mal versuchte sie, sich als alleiniges Opfer darzustellen. Sogar im Gerichtssaal erhob sie sich mehrmals, weinte bitterlich und rief: »Mama, bitte verzeih mir!« Jeder im Saal merkte, dass es sich nicht um eine Show handelte, sondern um den Hilfeschrei einer gequälten Seele.
    Das Urteil lautete drei Jahre und vier Monate Gefängnis wegen Totschlags in einem minderschweren Fall. Als Auslöser für die Tat wurde die Bemerkung der Mutter gewertet, die laut Gutachter zu einer tief greifenden Bewusstseinsstörung geführt hatte.
    Klara kam in eine Frauenhaftanstalt und fand dort kompetente Hilfe, um ihr Leben in geordnete Bahnen zu lenken. Eine Anstaltspsychologin nahm sich ihrer an

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