Unheil
Er brach ab, als Spiers sich aus seinem Bürosessel erhob und über Holmans Kopf hinwegstarrte. Spiers ging um den Schreibtisch herum zum Fenster; Holman war noch immer zu sehr in Gedanken und von Spiers seltsamer Geistesabwesenheit verwirrt, um etwas zu unternehmen. Spiers öffnete das Fenster und wandte sich um, schaute den verdutzten Holman an und für eine Sekunde verloren seine Augen ihre Ausdruckslosigkeit, und ein Zeichen von Wiedererkennen blitzte in ihnen auf, wich aber gleich darauf wieder einer merkwürdigen Starrheit.
Er wandte sich zurück zum Fenster, stieg auf das Fensterbrett und sprang hinaus, bevor Holman eine Bewegung auf ihn zu machen konnte.
Holman war wie betäubt. Er saß steif mit offenem Mund, unfähig zu begreifen, wessen er gerade Zeuge geworden war. Dann stieß er Spiers Namen aus und stürzte zum Fenster. Er sah die zerschmetterte Gestalt neun Stockwerke tiefer auf dem Pflaster liegen; unter dem zertrümmerten Kopf breitete sich rasch eine Blutlache aus. Aus der Entfernung hatte es den Anschein als öffneten und schlossen sich die Finger einer Hand in reflexhaften Zuckungen. Dann krümmte sich der ganze Körper heftig zusammen und fiel ebenso plötzlich wieder zurück, um sich nicht mehr zu regen.
Holman atmete tief und bebend ein und lehnte sich an den Fensterrahmen. Unten auf der Straße liefen Passanten zusammen und umstanden den zerschmetterten Körper; andere blieben auf Distanz oder eilten mit abgewandten Au- gen vorbei. Er kehrte dem Fenster den Rücken und sah Spiers Sekretärin mit verschreckten Augen in der Türöffnung stehen.
»Er — er ist gesprungen«, brachte er endlich hervor.
Sie wich vor ihm zurück ins Vorzimmer. Die Tür hinter ihr sprang auf, und mehrere Leute platzten herein. »Was ist passiert?« verlangte einer der Männer zu wissen. »Wer war es?«
Holman ließ sich in den Bürosessel sinken, den Spiers Au- genblicke zuvor noch besetzt hatte, und bemerkte mit Unbehagen, daß der Sitz noch warm war. Er antwortete den Leuten nicht, die ihn umdrängten; er saß bloß da und starrte auf die Schreibtischplatte. Was war geschehen? Warum war er gesprungen? Was hatte seinen Verstand so plötzlich verwirrt? Wieder überkam in das kribbelnde Gefühl, das er verspürt hatte, als sie in den Nebel gefahren waren. Es konnte nicht sein, es ergab keinen Sinn. Aber sein Gehirn brauchte keine verstandesmäßige Erklärung, das Gefühl reichte aus. Er sprang auf und bahnte sich den Weg durch die aufgeschreckten Leute im Büro. Er mußte zu Casey.
6
Das Internat stand auf einem weiträumigen Grundstück an einer der stilleren Straßen in Andover. Eine lange, kiesbestreute Zufahrt mit hohen Bäumen auf beiden Seiten verband es mit der Außenwelt und trennte es zugleich von ihr. Am Ende der Allee ragte mächtig der große Ziegelbau auf, einschüchternd für jeden jungen Neuankömmling, der hierher kam. Obschon lange vorher errichtet, war Redbrook House 1910 als private Internatsschule nur für die Söhne der priviligierten Klassen eröffnet worden. Es florierte bis in die Jahre der Weltwirtschaftskrise nach 1930, als es plötzlich die Gunst des Adels und der sehr Reichen verlor, die allmählich erkannten, daß einige der aufgenommenen Jungen nicht ganz so wohlerzogen waren wie ihre eigenen Sprößlinge, obwohl die Eltern offensichtlich wohlhabend genug waren, sich die exorbitanten Gebühren zu leisten, die das Internat verlangte; aber schließlich war Geld nicht mehr allein eine Sache der Vererbung. Im Laufe der nächsten fünfzehn Jahre verlor das Internat an Format und Ansehen, bis ein eifriger, energischer und junger stellvertretender Direktor eingestellt wurde, dem es gelang, die alten Traditionen und Lehrmethoden, die seit Lord Redbrooks Tagen unverändert geblieben waren, abzuschaffen und neue, interessantere Wege der Erziehung zu gehen und einen lebendigeren Zugang zu den alten und oft langweiligen Lehrstoffen zu finden. Innerhalb von fünf Jahren hatte er es selbst zum Direktor gebracht und reformierte das Internat zu einer modernen, zukunftsorientierten Privatschule, die aber nicht mehr ganz so exklusiv war wie ihr Vorläuferinstitut. Sein Name war Hayward, und nun, nach mehr als dreißig Jahren, waren die von ihm eingeführten Methoden zu alten, ausgetretenen Wegen geworden.
Vor fünf Jahren hatte Hayward in der Hoffnung, der Schule neues Leben einzuhauchen, einen stellvertretenden Direktor eingestellt, da er wußte, daß seine Methoden unmodern geworden waren, die
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