Unheil
geschweige denn sie züchten konnte. Er war einmal oben in Herbys Taubenschlag gewesen, einem Bretterverschlag auf einem Nebendach hinter seinem Laden. Das Haus selbst war groß, wie die meisten der Häuser an der Londoner Hackney Road, ihre Hinterhöfe lagen ein Stockwerk unter der Straßenebene, um die Kellerräume bewohnbar zu machen und die Mieteinnahmen zu verbessern. Die früheren Inhaber des Ladens hatten einen Anbau errichtet, der den größten Teil der Länge des Hinterhofes einnahm und bis zum zweiten Stock reichte. Das Flachdach des Anbaus war erreichbar durch das Fenster eines Treppenabsatzes, und Herbert hatte seinen Taubenschlag darauf errichtet.
Der Gestank in der Hütte hatte Harry Übelkeit verursacht, und Herberts betrunkenes Schnalzen und Glucken hatte ihn mit kaum verhohlenem Abscheu erfüllt. Es war ihm ein Rätsel, was Herby in den trippelnden, gurrenden Vögeln sah. Sie plusterten sich auf, verdreckten die ganze Hütte mit ihrem Kot und waren zu nichts zu gebrauchen — nicht einmal Taubenpastete wurde heutzutage noch gegessen. Harry wußte, daß Herby seine Tauben an Wettflügen teilnehmen ließ, aber er hatte nie etwas gewonnen. Wenn er den Punkt vorsichtig zur Sprache brachte, war die einzige Antwort, die er bekam: »Hast du sie jemals fliegen sehen?« Genau die einfältige Art von einer Antwort, wie man sie von einem alten Säufer erwarten konnte. Immerhin, abgesehen von seinen stinkenden Tauben war Herby in Ordnung. Immer gut für ein paar Gläser und eine Nebeneinnahme.
»Sie hätten längst zurück sein müssen«, sagte Herbert mit Grabesstimme. »Brachte sie mit dem Lieferwagen hinunter nach Salisbury. Hab' ein paar neue, verstehst du, und mit denen muß man behutsam anfangen. Keine zu weiten Strecken, sonst finden sie den Heimweg nicht. Ein paar von den älteren waren bei ihnen, also hätte alles in Ordnung gehen müssen. Und Claude hat sich noch nie verflogen!«
Harry verbiß sich ein Grinsen, als er an die Taube mit dem lächerlichen Namen dachte, die Herberts Liebling war. Er hatte sie schon viele Jahre, ein struppiger alter Vogel, der immer aussah, als wäre er gerade den Krallen einer Katze entwischt. Herby behandelte ihn wie einen Säugling. Damals, als Harry oben im Taubenschlag gewesen war, hatte Herby das Tier an seine Wange gehalten und zu ihm gesprochen, als ob es jedes Wort verstehen könnte. Und nicht etwa Säuglingsgebabbel, sondern vernünftige Worte, von Mann zu Mann. Als Harry den Vogel gehalten hatte, hatte er ihm in die Hand geschissen.
»Sonntag hab' ich sie hingebracht«, fuhr Herbert mit leicht lallender Stimme fort. »Sollten inzwischen zurück sein. Das Dumme ist, sie brauchen die Sonne zur Orientierung, verstehst du.«
»Na, vielleicht sind sie zurückgekommen, seit du hier bist, Herby. Wirst sehen, wenn du nach Hause kommst, sitzen sie alle oben und warten auf dich.« Er fing den Blick eines anderen Gastes auf und blickte himmelwärts, gab aber acht, daß Herbert es nicht sah. Der andere Mann zwinkerte zurück.
»Willst du mich verarschen, Harry?« Herberts Ton war herausfordernd.
Harry wußte, daß sein Freund nach ein paar Scotch bei der geringsten Andeutung von Ironie bösartig werden konnte. »Nein, nein«, sagte er schnell. »Ich meinte bloß, daß sie alle oben auf dem Dach sein und auf dich warten werden. Ganz bestimmt. Hier, es wird Zeit, daß ich dir einen spendiere.« Er nahm ein frisches Glas vom Regal und atmete auf, als er Herbert in seinem gefühlsduseligen Tonfall weiter von seinen Tauben reden hörte. Er wollte Herby nicht aufregen.
»Die Sache ist die, Harry, daß Vögel nichts von dir verlangen. Du fütterst sie, und damit hat sich's, sie gehören zu dir. Sie sind nicht wie Hunde oder Katzen, die um dich schleichen und betteln. Sie sind stolz, verstehst du. Sie kommen zu dir, weil du Futter und einen Unterschlupf für sie hast, und das ist alles. Fütterst du sie nicht, sind sie weg.« Er beugte sich über die Theke und zeigte mit dem Finger auf den Barmann. »Aber wenn du richtig für sie sorgst, kommen sie immer zu dir zurück. Sie sind treu, verstehst du. Unabhängig, aber treu.«
Er richtete sich wieder auf, zufrieden mit seiner Feststellung. Harry nickte zustimmend und stellte ihm den Whisky vor die Nase, war aber verdrießlich, daß er gezwungen gewesen war, ihm einen auszugeben. Der Wirt hatte Adleraugen, also konnte er mit der Ladenkasse nicht zu viel riskieren. Er würde dafür bezahlen müssen.
»Claude wird sie
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