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Unheilvolle Minuten (German Edition)

Unheilvolle Minuten (German Edition)

Titel: Unheilvolle Minuten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Cormier
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vielleicht pensionierte Polizeibeamte. Aber der Rächer ging ihnen dennoch aus dem Weg, machte sich aus dem Staub, wenn sich einer von ihnen näherte. Und die ganze Zeit über hielt er Ausschau, war auf der Suche, ohne Rücksicht auf seinen schmerzenden Kopf, die brennenden Augen.
    Ab und zu machte sein Herz einen Satz, wenn er ein Gesicht entdeckte, das ihm bekannt vorkam. Das passierte einige Male. Dann folgte er dem Jungen, kniff die Augen zusammen, versuchte ihn deutlich zu sehen, versuchte das Gesicht von einem der Zerstörer über das verdächtige Gesicht zu legen. Jedes Mal gab es eine Enttäuschung; es war nie einer der Zerstörer. Dann kam ihm ein schrecklicher Gedanke. Mal angenommen, er hatte einen von ihnen schon gesehen, aber nicht erkannt? Mal angenommen, sein Gedächtnis ließ ihn im Stich? Das kann nicht sein, hielt er sich selbst vor. Er war der Rächer. Wenn er die Augen schloss, konnte er selbst im Trubel des Einkaufszentrums die Gesichter der Zerstörer vor seinem geistigen Auge aufsteigen lassen, sah ihren Gang vor sich, sah, wie sie redeten und schrien, wie sie aussahen. Und das alles ohne den geringsten Zweifel.
    Aber wo waren sie?
    Er ging in die Geschäfte, betrachtete die Verkäufer und stellte fest, dass es meistens Mädchen waren, Verkäuferinnen, vor allem in den Kaufhäusern. Er entdeckte jedoch Jungen, die Kisten schleppten oder Einkaufswagen schoben, in denen die Waren hoch aufgetürmt waren. Und Jungen arbeiteten dort, wo man etwas essen konnte – McDonald’s, Papa Gino, Friendly . Der Rächer bekam die Pizzas und Hamburger über. Früher, bevor er im Einkaufszentrum Wache schob, hätte er das nie für möglich gehalten.
    Eines Tages sah er Jane Jerome. Ihm ging das Herz auf, schwoll an, bis es kaum noch in seine Brust zu passen schien. Dann begann es zu hämmern, weil sie so wunderschön war. Sie sah ihn nicht. Er aber konnte den Blick nicht von ihr abwenden. So wie früher an den Abenden, wenn er sie in ihrem Zimmer beobachtet hatte. Sie zog die Jalousie herunter, aber nicht ganz bis nach unten, so dass ein paar Zentimeter frei blieben. Durch diese Zentimeter beobachtete er sie. Sah, wie sie ihre Schularbeiten machte, den Stift zwischen den Lippen. Rote, volle Lippen. Sah ihr beim Ausziehen zu. Wie sie die Bluse auszog und ihr weißer Spitzen-BH zum Vorschein kam. Wie sie den Rock zu Boden gleiten ließ. Sie hängte ihre Sachen nie auf oder legte sie auch nur über einen Stuhl, sondern warf sie aufs Bett oder einfach auf den Boden, eine Pfütze aus Rock und Bluse oder Pullover. Manchmal lief sie in Slip und BH herum. Dann quollen ihm fast die Augen aus dem Kopf. Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt. Wie Schüttelfrost und Fieber. Konnte sich atmen hören. Er fragte sich, ob sie wusste, dass er am Fenster stand. Ob sie ihm eine Vorstellung gab, indem sie fast nackt herumlief. Verwirrt blinkerte er mit den Augen. Was wäre, wenn sie ihren BH und das Höschen auszog? Er hatte noch nie eine nackte Frau gesehen. Wusste nicht, was er tun würde, wenn sie alles auszog. Aber das war ganz unmöglich. Jane Jerome tat so etwas nicht. Nicht seine Jane. Sie war nicht wie die anderen. Nicht wie ihre Schwester, die ihn nicht mal grüßte, wenn sie an ihm vorbeiging, immer in Eile, ohne sich je die Zeit zu nehmen, stehen zu bleiben und mit ihm zu reden. Bei ihr würde er sich nicht die Mühe machen, durch ihr Fenster zu schauen. Aber vor Janes Fenster war ihm immer so sonderbar zu Mute. Fröstelnd und warm zugleich. Er hoffte, dass sie den BH und das Höschen ausziehen würde, und wollte doch wieder nicht, dass sie’s tat. Nur ein schlechtes, unanständiges Mädchen würde so herumstolzieren, wenn sie wusste, dass jemand am Fenster stand und sie beobachtete. Und Jane war nicht schlecht. Als sie oben am Gummizug ihres Slips zupfte und ihn straff über den Po zog, fragte er sich, ob sie nicht doch unanständig war.
    Eines Abends musste er feststellen, dass die Jalousie ganz heruntergezogen war. Auch am nächsten Abend war sie ganz unten. Und alle folgenden Abende. Zuerst war er traurig, so als hätte er etwas Kostbares verloren, doch dann war er erleichtert. Man muss der Versuchung widerstehen, sagte seine Mutter immer. Er wusste, dass Jane die Versuchung war, vor allem bei hochgezogener Jalousie.
    Als er sie jetzt im Einkaufszentrum sah, zog er sich ins Dunkel unter der Rolltreppe zurück und beobachtete sie, wie sie vorbeiging, fraß sie mit den Augen auf. Alles an ihr war hell und glänzend.

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