Unheilvolle Minuten (German Edition)
natürlich völlig lächerlich. Aber der Arzt sagte, dass sie schon sehr weit gekommen war – große Fortschritte gemacht , war seine Formulierung gewesen –, und mit der Zeit würde schon alles wieder werden, nur keine Sorge. Dann erzählte er ihr, ohne dass sie zu fragen brauchte, was passiert war. Dass sie die Treppe hinuntergefallen war. Aber sie wusste, dass es nicht so einfach war. Da war noch etwas anderes, gleich hinter dem Horizont ihrer Erinnerung. Ein Schatten, mehr als nur ein Schatten, und die Schatten hatten Gesichter. Sie wusste nicht, wessen Gesichter das waren.
Bitte, dachte sie, während sie ihre Familie ansah, schaut mich nicht so an. Als wäre ich hinter einer Glaswand, und ihr könntet mich nicht berühren. Vorhin, als sie ins Zimmer gekommen waren, hatten sie sich rings ums Bett versammelt, unter Umarmungen und Küssen und lieben Worten. Sie hatte sich in diesen Worten gesonnt, ließ sich von den Liebkosungen und den zärtlich gemurmelten Worten tragen. Dann versuchte sie den Mund zu bewegen, aber es kam nichts heraus. He, alle miteinander, seht her, ich hab vergessen, wie man spricht. Komisch, aber eigentlich gar nicht komisch.
Es machte ihr nichts aus, nicht sprechen zu können. Mit der Zeit wird das wieder, hatte der Arzt gesagt, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnern konnte. Sie fand es nur traurig, dass sie ihren Eltern nicht sagen konnte, sie sollten sich keine Sorgen machen. Mit mir ist alles in Ordnung. Mir geht’s gut. Später, wenn sie mehr Kraft hatte, würde sie ihnen Zettel schreiben.
Dann fing sie aus unerfindlichen Gründen an zu weinen.
Hasste sich für dieses Weinen.
Für das, was das Weinen mit ihnen machte.
Denn sie fingen ebenfalls an zu weinen. Ihre Mutter, ihr Vater und Jane und Artie. Alles heulte.
Gott sei Dank kam in diesem Augenblick der Arzt ins Zimmer. Der Arzt sah immer müde aus. Langes, schmales, müdes Gesicht. Aber dann lächelte er und sah nicht mehr müde aus. Gab ihr ein gutes Gefühl. Und jetzt lächelte er ihre Familie an, und auch das gab ihr ein gutes Gefühl.
Sie machte die Augen zu. Einen winzigen Moment lang hatte sie Angst, wieder in dieses Koma abzustürzen, aber stattdessen ließ sie sich in die süße, süße Süße des Schlafs hinabgleiten.
Buddy traf sich mit seinem Vater zum Mittagessen in einem Nobelrestaurant voller Messing und Farnpflanzen in der Innenstadt von Wickburg. Die Augen seines Vaters waren blutunterlaufen. Sein Gesicht war eingefallen, als hätte er zu wenig geschlafen.
»Gut siehst du aus«, sagte sein Vater mit herzhafter, aber heiserer Stimme.
»Du siehst auch gut aus, Dad«, log Buddy, den plötzlich ein zärtliches Gefühl für seinen Vater durchströmte. Er sah so … traurig aus. Mit einem Mal war er bereit, seinem Vater auf der Stelle alles zu vergeben, was er zum Zerfall der Familie beigetragen hatte.
Nachdem der Kellner die Speisekarte gebracht hatte, bestellte sein Vater einen trockenen Martini und wandte sich dann an Buddy. »In letzter Zeit sind Martinis aus der Mode gekommen, aber ich bin wohl altmodisch.«
Sein Vater trank zwei Martinis vor dem Essen und zu der Mahlzeit zwei Gläser Weißwein. Buddy trank drei Colas, im klassischen Stil. Schaffte es, den Hamburger und die Pommes frites aufzuessen, obwohl er keinen Appetit hatte. Beantwortete die Fragen seines Vaters nach der Schule, seinen Noten, Addy. Wartete darauf, dass er ihn nach Mutter fragte – Himmel noch mal, sie waren schließlich noch nicht geschieden –, wartete aber vergebens. Er war versucht, von Jane zu erzählen, hielt sich aber zurück, obwohl ihm der Grund dafür selbst nicht ganz klar war. Sah zu, wie sein Vater den Wein trank und nach jedem Schluck seufzte, als handelte es sich um einen besonders edlen Tropfen. Überrascht stellte er fest, dass er nicht nach einem Drink lechzte. Es war, als würde der Alkohol, den sein Vater konsumierte, wie von Zauberhand zu ihm übertragen, so dass sein eigenes Verlangen schwand.
Sein Vater aß sein kleines Steak ohne Begeisterung. Es war, als füllte er mit den Bissen nur die Pausen bis zum nächsten Schluck Wein. Nach jedem Schluck schmatzte er leise, und einmal hob er das Glas und betrachtete es anerkennend.
Unterdessen wartete Buddy. Und fragte sich, worauf er wartete. Dann wurde ihm klar, dass er darauf wartete, dass sein Vater zur Sache kam, ihm die Absicht unterbreitete, die hinter dem Mittagessen stand. Eine wilde Hoffnung stieg in ihm auf. Wollte sein Vater nach Hause
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